Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Uhr und kein Gefühl für die Zeit und fürchtete, den Zug zu verpassen. Ein weiterer Tag in Oostende hätte mich gelangweilt; außerdem sollte die Sorge von Mama und Papa und Moma nicht unnötig verlängert werden. Und Hunger hatte ich und Durst. Die Meerluft und die Sonne riefen einen solchen Appetit in mir auf, dass alles an mir und in mir unruhig wurde und ich gar nicht die Leute ansehen durfte, die in Brote bissen und in Äpfel; mir schien, alle Leute bissen in Brote und Äpfel. Mein Instinkt sagte mir, am Bahnhof wäre leichter etwas zu ergattern; wobei ich keine Idee hatte, wie ich das anstellen sollte.
Neben dem Eingang zur Halle stand ein kleines Häuschen aus bemaltem Sperrholz und Dachpappe, einer Almhütte nachgebildet. Ein Mann und eine Frau brieten darin Würste. Eine Seite des Daches war nach oben geklappt, ich schätzte, weil es die beiden sonst vor Hitze nicht ausgehalten hätten. Es war ein furchtbar heißer Tag. Meine Jacke hatte ich am Strand im Sand vergraben, ebenso die Krawatte; morgen würde ich zu Hause sein, ich war auf diese Sachen nicht mehr angewiesen. Am liebsten hätte ich auch die Hose und die Schuhe weggeschmissen, in einen Kanaldeckel gestopft und das Hemd und den Hut gleich hinterher, ich wollte nichts von dem behalten, was mir Major Hajós bezahlt hatte. Ich stand vor dem Bratwursthäuschen und schaute die Frau an – eine Minute, zwei Minuten, ich hatte die Bahnhofsuhr im Blick. Die Frau sagte etwas in der Sprache, die ich nicht verstand. Drei Minuten. Sie sagte wieder etwas. Ich schaute sie nur an. Nun fragte mich der Mann etwas. Ich ignorierte ihn, starrte weiter nur sie an; nahm alles aus meinem Blick heraus, alles Bittende, alle Neugierde, als wäre die Frau ein Stück Holz und ich an Holz nicht interessiert. Vier Minuten. Sie hielt es nicht aus, sie drehte sich weg; aber lange hielt sie es auch nicht aus, mich nicht anzusehen. Der Mann war der bessere Mensch von den beiden. Er schnitt ein Stück Weißbrot auf, dick und lang wie mein Unterarm, klemmte drei von den leckeren braunschwarzen Würstchen hinein, strich Senf darüber und reichte es mir. Ich sagte nichts, nickte auch nicht, hielt das Brot in der Hand, schaute weiter die Frau an. Und endlich griff sie hinter sich in den Kasten, der voll Eis war und aus dem Wasser über den Platz vor dem Bahnhof rann, und gab mir eine gelbe Limonade. Ich küsste Zeigefinger und Mittelfinger und legte sie mir aufs Herz und verbeugte mich und lächelte nicht. So machte es Papa manchmal, wenn er Dankbarkeit spielte, und lächelte auch nicht.
6
Bis Frankfurt am Main ging’s glatt. Erst war ich durch den Zug geschlichen, vom letzten Waggon zum ersten und wieder zurück und wieder vor, so war die Zeit kürzer geworden; wenn ich den Schaffner sah, verschwand ich auf der Toilette. In der Nacht verdrückte ich mich in ein leeres Abteil. Irgendwann rüttelte mich jemand an der Schulter. Zwei Polizisten standen über mir und ein Schaffner, aber ein anderer, ein deutscher. Sie fragten, wer ich sei, warum ich hier sei, was passiert sei und ein paar andere Sachen; wie ich hieße, wo meine Eltern seien, wo ich wohnte. Ich antwortete »Ja«, »Nein« und »Weiß nicht« oder gar nicht. Der Schaffner packte mich am Arm und schrie mich an, solche wie mich habe er gefressen, und schubste mich vor sich her aus dem Zug hinaus. Dass wir in Frankfurt waren, sah ich an dem Schild. Die Polizisten folgten uns. Auch auf dem Bahnsteig ließ mich der Schaffner nicht los; er zerrte mich an den Zugfenstern entlang, in denen ich ein paar Gesichter sah, und dabei beschimpfte er mich weiter und riss mich hin und her; einmal ging ich ihm zu langsam, einmal zu schnell, einmal zu weit weg von ihm, dann war ich ihm wieder zu nah, und immer wollte er, dass ich ihm antwortete; aber ich antwortete nicht. Plötzlich holte er aus und schlug mir die Hand so wuchtig gegen das Gesicht, dass ich zur Seite springen musste, sonst wäre ich umgefallen. Einer der Polizisten drängte sich dazwischen und fuhr ihn an, er solle das lassen, er solle die Finger von mir lassen, das sei von nun an die Angelegenheit der Polizei. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich geschlagen worden war, und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, und dachte, ich will lieber keine große Sache daraus machen, sonst verliere ich den Überblick und kann nur an mein Gesicht denken, das auf einer Seite sehr heiß wurde. Der Schaffner drehte sich weg von uns und sprach mit einem
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