Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
Verdacht so ganz von Kleinigkeiten abhängt, die einem anderen unbedeutend vorkommen mögen, ja sogar der Mann, an den ich mich vor allen anderen mit Recht um Hilfe und Rat wenden könnte, hält alles, was ich ihm davon erzähle, für Phantasien einer nervösen Frau. Das sagt er nicht, doch ich entnehme es seinen beruhigenden Antworten und gleichgültigen Augen. Aber ich habe sagen hören, Mr. Holmes, Sie können tief in die vielfältige Verderbtheit des menschlichen Herzens blikken. Vielleicht vermögen Sie mir zu raten, wie ich durch die Gefahren steuern soll, die mich umringen.«
»Ich bin ganz Aufmerksamkeit, Madam.«
»Ich heiße Helen Stoner und lebe an der Westgrenze zu Surrey bei meinem Stiefvater, dem letzten Nachfahren einer der ältesten sächsischen Familien Englands, der Roylotts of Stoke Moran.«
Holmes nickte. »Der Name ist mir vertraut«, sagte er.
»Die Familie gehörte einmal zu den reichsten in England, und der Landbesitz erstreckte sich im Norden hinüber nach Berkshire und im Westen nach Hampshire. Im letzten Jahrhundert waren vier aufeinanderfolgende Erben liederlich und verschwenderisch, und der Ruin wurde in den Tagen der Regentschaft schließlich durch einen Spieler besiegelt. Nichts war übriggeblieben außer ein paar Stücken Land und einem zweihundert Jahre alten Haus, das unter einer schweren Hypothekenlast fast zusammenbrach. Der letzte Squire fristete dort das schreckliche Leben eines verarmten Aristokraten; sein einziger Sohn aber, mein Stiefvater, der einsah, daß er sich den neuen Bedingungen anpassen mußte, nahm das Anerbieten eines Verwandten an, das ihn in den Stand setzte, einen medizinischen Grad zu erwerben, und wanderte nach Kalkutta aus, wo er es durch berufliches Können und Charakterstärke zu einer großen Praxis brachte. In einem Wutausbruch wegen einiger Diebstähle, die im Haus begangen worden waren, erschlug er seinen eingeborenen Butler und entging nur knapp einem Todesurteil. Er verbüßte eine lange Freiheitsstrafe und kehrte nach England zurück, als ein verdrießlicher und enttäuschter Mann.
In Indien hatte Dr. Roylott meine Mutter geheiratet, Mrs. Stoner, die Witwe eines Generalmajors der Bengalischen Artillerie. Meine Schwester Julia und ich sind Zwillinge; zur Zeit der Wiederverheiratung unserer Mutter waren wir erst zwei Jahre alt. Meine Mutter bezog eine ansehnliche Pension, nicht weniger als tausend Pfund jährlich, und sie überschrieb sie ganz Dr. Roylott für die Zeit, während der wir mit ihm zusammenlebten, mit der Auflage, daß jedes Jahr eine bestimmte Summe für meine Schwester und mich für den Fall unserer Heirat zurückgelegt werden sollte. Kurz nach der Ankunft in England starb meine Mutter – sie fand vor acht Jahren den Tod bei einem Eisenbahnunglück bei Crewe. Dr. Roylott gab danach seine Versuche, in London eine Praxis einzurichten, auf und zog mit uns nach Stoke Moran, in das Haus seiner Väter. Das Geld, das meine Mutter hinterlassen hatte, langte vollauf zur Befriedigung unserer Wünsche, und nichts schien unser Glück zu beeinträchtigen.
Um diese Zeit aber ging mit unserem Stiefvater eine schreckliche Verwandlung vor sich. Anstatt Freundschaften zu schließen und den Nachbarn, die zuerst hocherfreut waren, daß wieder ein Roylott of Stoke Moran den alten Familienbesitz bewohnte, Besuche abzustatten, zog er sich in das Haus zurück und verließ es selten, es sei denn, um einen wilden Streit mit jedem, der ihm über den Weg lief, vom Zaun zu brechen. Ein gewalttätiges Temperament, das sich bis zur Raserei steigert, ist das Erbteil der männlichen Mitglieder der Familie, und im Fall meines Stiefvaters hat sich diese Anlage durch seinen langen Aufenthalt in den Tropen, glaube ich, stark ausgebildet. Es gab eine Reihe schändlicher Zänkereien, zwei davon endeten vorm Polizeirichter, und schließlich war er der Schrecken des Dorfes, und alle flohen, sobald er sich näherte, denn er ist ein äußerst kräftiger Mann und in seiner Wut gänzlich unkontrolliert.
Letzte Woche hat er den Hufschmied des Dorfes über ein Gitter in den Fluß geworfen, und ich konnte nur dadurch eine erneute öffentliche Bloßstellung verhindern, daß ich dem Opfer alles Geld anbot, das sich zusammenbringen ließ. Er hat überhaupt keine Freunde außer den umherziehenden Zigeunern; diesen Vagabunden erlaubt er, auf den paar Acre verwilderten Landes, das den Familienbesitz noch ausmacht, zu kampieren, und nimmt dafür ihre
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