Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
stehen geblieben. Ich beginne zu laufen. In meiner Eile habe ich vergessen, mir irgendwelche Schuhe anzuziehen, und meine Füße sinken ins feuchte Gras. Vor mir erhebt sich die Ruine, dunkel und still. Der See schimmert. Eine Eule schreit, oben auf den zerbrochenen Bögen der Kapelle. Sebastian hat gesagt, er würde warten.
Ich lausche und suche, bin bis in die letzte Faser meines Körpers angespannt. Niemand ist da. Und so weiß ich Bescheid.
Es ist vorbei.
Ich bedeute Sebastian nichts. Ich bin nur ein weiteres einfältiges Mädchen, das sich von einem hübschen Gesicht hat beeindrucken lassen. Mein Atem geht in raschen Zügen. Mein Herz schlägt so heftig, dass es weh tut. Und dann sehe ich ihn; er kauert an einer niedrigen Mauer in den Schatten.
»Evie?« Er steht auf. Ich fliege zu ihm, und er reißt mich in seine Arme. Wir klammern uns aneinander, ohne etwas zu sagen, dann zieht er sich ein Stück zurück.
»Oh, Evie, es tut mir so leid. Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen.«
»Es ist in Ordnung, es ist in Ordnung. Mir tut es auch leid; es war mein Fehler.«
»Nein! Sag das nicht. Ich möchte dir erklären – «
»Es spielt keine Rolle, es ist nicht wichtig.« Ich sehe ihm ins Gesicht, das unnatürlich blass und hager aussieht. Ich spüre einen Stich der Angst, mitten durchs Herz. »Was ist los, Sebastian? Du siehst schrecklich aus. Bist du krank?«
»Es ist nicht wichtig.« Er hustet matt. »Hör zu, was diese Sache angeht, dass du meine Eltern treffen willst. Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen. Meine Eltern sind tot. Es gibt niemanden, den du treffen könntest. Ich bin allein.«
»Wieso hast du mir das nicht gesagt?«
»Ich wollte dich nicht … ich wollte nicht, dass du mich bemitleidest.« Stolz flackert in seinem Gesicht auf. »Es war dumm. Bitte vergib mir.«
»Es gibt nichts zu vergeben. Ich habe mich auch dumm verhalten. Ich habe dich so vermisst.«
»Wirklich?«, fragt er begierig, hungrig. »Oh, Evie, ohne dich hatte ich das Gefühl, gar nicht mehr am Leben zu sein!«
»Aber jetzt bin ich hier«, erwidere ich. Ich drücke ihn fest an mich. Er sieht so hager und krank aus, dass ich ihm am liebsten einfach nur seinen Schmerz nehmen will. »Ich sorge dafür, dass es dir besser geht. Ich werde dich nie wieder verlassen. Mach dir keine Sorgen, ich bin hier.«
Er lächelt wie ein zerbrechlicher, ausgemergelter Engel.
»Ja, du bist hier. Wir sollten das feiern. Was wollen wir tun?«
»Was schlägst du vor?« Ich lache leise. »Ein Picknick? Ins Kino gehen? So viele Möglichkeiten haben wir nicht.«
Sebastians Augen glänzen. »Ich weiß, was ich gern tun würde. Lass uns zusammen im See schwimmen. Wir können so tun, als wäre es dein wildes Meer. Würde dir das gefallen?«
»Aber es geht dir nicht gut, und es ist kalt …«
Er berührt eine Strähne meiner langen Haare, so wie er es getan hat, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich spüre, wie ich schwach werde.
»Das macht mir nichts«, sagt er, und sein Blick sucht mein Gesicht, als würde er versuchen, es sich einzuprägen.
»Und ich habe auch gar keinen Badeanzug dabei.« Obwohl ich weiß, dass ich nicht widerstehen kann.
Langsam streckt Sebastian die Hände aus, öffnet meinen Morgenmantel und lässt ihn ins nasse Gras gleiten. Durch das Nachthemd hindurch spüre ich die beißend kalte Luft. Ich nehme das Band mit Frankies Anh?nger ab und lasse ihn auf den Stoff fallen.
»Was ist das?«, fragt er und sieht neugierig nach unten.
»Der Anhänger ist von meiner Großmutter. Ich will nicht, dass er nass wird.«
Sein Lachen klingt freundlich und zärtlich. »Du bist immer so vernünftig, Evie, selbst wenn du dich anschickst, mitten in der Nacht in einem verbotenen See zu schwimmen. « Dann zieht er seinen Mantel und das weit fallende Hemd aus. Seine Arme und die Brust heben sich glänzend wie heller Stein von seiner dunklen Reithose ab. »Bist du so weit?«, flüstert er. Er hebt mich hoch, als wäre ich eine Braut, die über die Schwelle getragen wird, und watet mit mir in seinen Armen in das stille Wasser des Sees.
Dunkle Ringe breiten sich aus, während wir Seite an Seite schwimmen. Dann berühren sich unsere Hände, und unsere Blicke begegnen sich, während unsere Arme und Beine einander umschlingen wie Efeuranken. Unsere Lippen suchen einander. In diesem Moment durchzuckt mich ein elektrischer Impuls wie ein
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