Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
musste Sebastian wiedersehen. Ich musste erfahren, ob es zwischen uns etwas gab, das real war. Und wenn ich es fand, würde ich es festhalten und nie wieder loslassen.
Zweiunddreißig
Das Tagebuch von Lady Agnes,
15. April 1883
Wie hatte ich ihn nur einfach so gehen lassen können? Wie habe ich es geschafft, in diesen Zug nach London zu steigen und ihn zurückzulassen?
Als ich hier ankam, musste ich erst einmal all meine Konzentration darauf richten, irgendwie zu überleben; schon allein die Notwendigkeit, mich zu ernähren und zu kleiden und nicht auf der Straße leben zu müssen, war eine Anstrengung. Meine Arbeit scheint Mr. Carley zu gefallen, und ich bekomme gerade genug Geld, um überleben zu können. Jetzt, da ich die grundsätzlichen Dinge, die zum Überleben nötig sind, geregelt habe, bin ich ziemlich unglücklich. Ohne Liebe ist das Leben nichts weiter als ein Existieren.
Gestern bin ich am Fluss entlanggegangen. Er ist nicht mit unseren Flüssen zu Hause zu vergleichen – ein stinkender, träger Strom, aus dem Nebel und üble Gerüche aufsteigen. Wie leicht wäre es doch , dachte ich, in ihn hineinzufallen und zuzulassen, dass seine Tiefe mich verschluckt …
Als ich in meine Bleibe zurückkehrte, fühlte ich mich krank und ersch?pft. Kaum war ich in meinem Zimmer, verriegelte ich die T?r, schloss die L?den und zog den Kreis. Dabei fl?sterte ich die Beschw?rungsformeln so leise, wie es nur ging. Es war das erste Mal, seit ich in der Stadt angekommen bin, dass ich mir gestattet habe, in den Mysterien zu schwelgen, und ich habe es auch nur aus einem einzigen Grund getan: n?mlich um die Gesichter derjenigen zu sehen, die ich liebe.
Die strahlenden, kühlen Flammen loderten auf, flackerten rot und golden und weiß, wie Blumen aus einem Treibhaus. Ich habe sie mit einem silbernen Messer abgeschnitten und mit ihnen seinen Namen in die Luft geschrieben. Dann sanken die Flammen nach unten, und in ihrem schimmernden Herzen sah ich – in weiter Ferne – ein Bild meines Geliebten. Sein Gesicht war von Schmerz und Fieber gezeichnet, und als er meinen Namen sprach, tat er es, um mich zu verfluchen. Dann wandte ich meinen Geist dem Haus meiner Eltern zu und sah auch sie als winzige Bilder in den Flammen. Sie klammerten sich aneinander und weinten.
Eine Woge der Wut schwappte über mich hinweg. Funken schossen vom Kreis auf, und ich erschuf einen Wirbelwind aus Phantomen; Sterne und Planeten schienen über meinem Kopf dahinzuwirbeln, Kaskaden aus Licht stürzten von meinen ausgestreckten Händen auf den Boden, und eine Legion fantastischer Kreaturen sprang um mich herum: bronzefarbene Tiger und schimmernde Pfaue und galoppierende Pferde, alle durch das Feuer gehärtet. Ich schrie den Mächten in meinem Geist zu: Wie kommt es, dass ich solche Wunder herbeirufen, aber nicht bei denen sein kann, die ich liebe? Wieso bin ich gezwungen, ihnen Schmerz zuzuf?gen? Wieso wurde ausgerechnet ich auserw?hlt?
Keine Antwort kam. Verzweifelt brach ich auf dem Boden zusammen und zerstörte den Kreis. Die Lichter und Flammen verschwanden, und ich lag zitternd im Dunklen, so angespannt und wachsam wie ein angeschlagenes Tier. In diesem Moment hätte ich alles getan, um zu ihm zurückzukehren.
Ich weiß jetzt, dass ich niemals heiraten oder Kinder haben werde. Aber wenn das Glück mir gnädig gewesen wäre und ich eine Tochter gehabt hätte, so hätte ich ihr gesagt, dass sie, wenn sie die Liebe gefunden hat, sie festhalten und nie wieder loslassen soll.
Dreiunddreißig
D ies ist der Moment. Ich bin hellwach und so angespannt und wachsam wie ein Tier.
Sobald ich davon ausgehen kann, dass alle anderen schlafen, husche ich die vertraute Dienstbotentreppe hinunter, ohne auf die Dunkelheit zu achten. Ich bin nur von dem Gedanken erfüllt, Sebastian wiederzusehen. Ich bete darum, dass er es noch nicht leid geworden ist, jede Nacht auf mich zu warten. Ich muss ihn unbedingt sehen, denn ich will es wissen. Alles, was bisher gewesen ist, hat mich zu diesem einen Moment hingeführt. Jetzt werde ich die Wahrheit erfahren.
Es ist unnatürlich ruhig in dem großen Haus, so als wären alle in einen verzauberten Schlaf gesunken, sogar die Mäuse. Ich hantiere mit den Riegeln an der Tür, die zum Hof und den Ställen führt. Dann bin ich draußen. Der Himmel ist klar und dunkel und übersät mit harten, kalten Sternen. Alles ist still. Die Zeit ist
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