Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
bissiger als je zuvor, seit Celeste nicht mehr da war, um ihr Ego etwas zu besänftigen. Ich stand seufzend auf. Als ich dann aber in den Spiegel sah, um das Band wieder zu schließen, taumelte ich vor Schreck zurück. Jemand anderes starrte mich an, nicht ich, sondern ein Mädchen mit langen, r?tlich braunen Locken in einem schwarzen Kleid mit einer funkelnden Silberkette um den Hals und einem winzigen Baby auf dem Arm. Es war Agnes.
Ich hielt mich krampfhaft am Waschbeckenrand fest. Dann hörte ich sie singen:
Die Nacht ist dunkel, aber der Tag schon nah,
Still, kleines Baby, hab keine Angst.
Still, kleine Effie, deine Mama ist da …
Es klopfte wieder an der Tür.
»Bist du tot umgefallen oder was?«
Ich riss die Tür auf, rauschte an India vorbei und stapfte in den Schlafsaal zurück. Ohne auf irgendwen zu achten, schloss ich die Vorhänge um mein Bett herum und zog die Decke bis zum Kinn hoch.
Agnes hatte ein Kind namens Effie. Agnes hatte ein Kind; Agnes war Effies Mutter … Die Worte rasten nur so durch meinen Kopf. Ich konnte nicht länger ignorieren, was ich sah. Es ließ sich nicht mehr wegerklären. Das hier war real. Zum ersten Mal begann ich zu glauben, dass es Agnes selbst war, die versuchte, mir mitzuteilen, was wirklich mit ihr geschehen war.
Sie hatte ein Baby gehabt, aber nicht geheiratet. Und ihr Baby war die kleine Effie mit den munteren Locken gewesen. Ich vermutete, dass es in der damaligen Zeit für sie unmöglich gewesen war, das Kind zu behalten; so etwas wäre ein schrecklicher Skandal gewesen. Was also, wenn Effie auf einen der Höfe dieser Gegend geschickt worden war, um dort zu leben? Was, wenn sie einen Namen bekommen hatte, hinter dem sie sich verstecken konnte ? Evelyn Frances Smith ? und als gew?hnliche Bauerstochter aufgewachsen war? Dann hatte sie geheiratet und selbst eine Tochter gehabt, Eliza Agnes, meine Urgro?mutter, deren mittlerer Name auf die Verbindung mit dem Klostergeb?ude verwies. Wohin Effie rechtm??ig geh?rt h?tte.
Meine Gedanken wirbelten. Mit einem üblen Gefühl im Bauch erinnerte ich mich an die Gerüchte, die es um Agnes’ Tod gegeben hatte und die besagten, dass es kein normaler Tod gewesen sei. War es möglich, dass man sie hatte loswerden wollen, um den Skandal um ihr Baby zu vertuschen? Lord Charles war sicherlich reich und mächtig gewesen; er hätte irgendeinen Verbrecher anheuern und sich mit den Autoritäten arrangieren können, um dann die Geschichte über einen Reitunfall zu verbreiten. Ich stellte ihn mir als kalten, grausamen viktorianischen Vater vor, der mehr um seinen Ruf besorgt war als um seine einzige Tochter. Kein Wunder, dass Wyldcliffe verflucht war.
Nein, so etwas war unmöglich. Jetzt übertrieb ich es; so etwas würden Eltern nicht zulassen. Abgesehen davon hatte Sarah gesagt, dass Lord Charles nach ihrem Tod zutiefst unglücklich gewesen sei und das Land verlassen habe. Allerdings stellte sich die Frage, ob ihn der Kummer vertrieben hatte oder seine Schuldgefühle.
Ich setzte mich in meinem Bett auf. Mir platzte schier der Schädel, so angestrengt versuchte ich, das alles irgendwie zu einer sinnvollen Geschichte zusammenzubasteln.
Wie auch immer die Einzelheiten aussehen mochten, eines schien mir vollkommen klar zu sein: Agnes war unter mysteriösen Umständen gestorben, und der gewaltsame Tod hatte auf Wyldcliffe einen Abdruck von Energie hinterlassen. Diese Energie hatte ich aufgenommen, hatte mich auf sie eingestimmt, was laut Sarahs Erkl?rungen deshalb m?glich sein konnte, weil Agnes meine entfernte Ahnin war. Irgendwie passte alles zusammen. Meine Einblicke in ihre Welt waren erstaunlich, aber durchaus nachvollziehbar, eine Art wissenschaftliches Ph?nomen. Ich war also doch nicht dabei, verr?ckt zu werden.
Ich hätte vor Erleichterung tanzen können, bis mir das weiche Gesicht der jungen Mutter wieder einfiel, auf das ich über die Zeit hinweg einen Blick geworfen hatte, und ich spürte Trauer in mir aufsteigen. Arme Agnes, dachte ich. Sie konnte kaum viel älter gewesen sein, als ich jetzt war, und sie musste Angst gehabt haben. Ich fragte mich, wie der Mann wohl gewesen war, den sie geliebt hatte. Ich hoffte, dass sie glücklich miteinander gewesen waren, wenigstens für eine kurze Zeit. Aber er musste sie fallen gelassen haben, sonst hätte sie ja die Folgen nicht allein tragen müssen. Dann schoss mir etwas durch den Kopf: Halte dich von ihm fern. Ihre Worte hatten keinerlei
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