Die achte Karte
gewichen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Wir lauschen dem Orchester nicht mehr auf dem Square Sainte-Cécile, sondern auf dem Square Gambetta. Obwohl sich die Musik genau gleich anhört!«
Léonie brannte darauf, endlich die Stadt zu erkunden, und als sie sah, dass der Regen nachließ, entschuldigte sie sich bei Madame Sanchez, versicherte ihr, dass sie sich schon zurechtfinden würde, und eilte aufs Zimmer, um sich ausgehfertig zu machen.
Während Marieta Mühe hatte, Schritt zu halten, strebte sie Richtung Hauptplatz, La Place aux Herbes, angelockt von den Geräuschen, die durch die schmale Gasse hallten, das Rufen der Straßen- und Markthändler, das Rattern von Karrenrädern und das Klirren von Pferdegeschirr. Als Léonie näher kam, sah sie, dass viele Stände bereits abgebaut wurden. Aber noch immer roch es köstlich nach gerösteten Maronen und frisch gebackenem Brot. Aus Metallkübeln, die an einem hölzernen Handkarren hingen, wurde dampfender Punsch mit Zucker und Zimt ausgeschenkt.
Der Place aux Herbes war schmucklos, aber wohlproportioniert. An allen Seiten war er von sechsstöckigen Häusern bebaut, und an jeder Ecke gingen kleine Straßen und Durchgänge ab. Ein aus dem 18 . Jahrhundert stammender verzierter Springbrunnen in der Mitte war Neptun gewidmet. Unter ihrer Hutkrempe hinweg las Léonie aus Pflichtgefühl die Inschrift, fand das Werk aber banal und ging weiter.
Die Äste der ausladenden Platanen verloren ihre Blätter, und das noch verbliebene Laub war kupferrot, blassgrün und golden gefärbt. Überall boten Regen- und bunte Sonnenschirme Schutz vor dem Wind und den immer wieder einsetzenden Schauern, in Weidenkörben türmten sich frisches Gemüse, Obst, Gartenkräuter und Herbstblumen. Schwarzgekleidete Frauen mit wettergegerbten Gesichtern verkauften an Holzständen Brot und
chèvres.
Zu Léonies Überraschung und Entzücken wurde fast eine ganze Seite des Platzes von einem Kaufhaus eingenommen. Der Name prangte in großen mit Draht befestigten Lettern an den schmiedeeisernen Balkongeländern – PARIS CARCASSONNE. Obwohl es erst kurz nach halb drei war, wurden die preisreduzierten Waren –
solde d’articles
– bereits vorn im Laden auf Tischen ausgelegt. An den Markisen hingen Metallhaken mit Jagdflinten, Kleidern, Körben, allerlei Haushaltsutensilien, Bratpfannen, sogar Herde und Öfen.
Ich könnte für Anatole ein paar Sachen für die Jagd erstehen.
Sie verwarf den Gedanken ebenso schnell wieder, wie er gekommen war. Sie hatte nur wenig Geld dabei und keine Möglichkeit, auf Kredit zu kaufen. Außerdem hätte sie gar nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Stattdessen schlenderte sie fasziniert über den
marché.
Hier, so kam es ihr vor, hatten die Frauen und die wenigen Männer, die ihre Produkte verkauften, lächelnde und offene Gesichter. Sie nahm hier und da Gemüse in die Hand, rieb Kräuter zwischen den Fingern, atmete den Duft langstieliger Blumen ein, alles Dinge, die sie in Paris so nie getan hätte.
Als der Place aux Herbes ihr nichts Neues mehr zu bieten hatte, beschloss sie, sich in die Seitenstraßen zu wagen, die den Platz umgaben. Sie ging in westliche Richtung und befand sich plötzlich in der Carriere Mage, in der Straße, wo Isoldes Anwälte ihre Kanzlei hatten. Am oberen Ende befanden sich überwiegend Büros und
ateliers de couturières.
Sie blieb einen Moment vor der Werkstatt von Tissus Cathala stehen. Durch die Glastür sah sie Regale mit Stoffen in allen Farben sowie ein großes Sortiment an Nähmaterialien. An die Holzläden auf beiden Seiten des Eingangs waren Papierbögen mit Modezeichnungen geheftet,
les modes masculine et féminine,
vom Cutaway für den Herrn bis hin zum Teekleid und dem Umhang für die Dame.
Léonie vertrieb sich die Zeit damit, die Schnittmuster in Augenschein zu nehmen, wobei sie immer mal wieder einen Blick die Straße hinunter in Richtung Anwaltskanzlei warf, in der Hoffnung, Isolde und Anatole würden vielleicht herauskommen. Doch als die Minuten verstrichen und noch immer nichts von ihnen zu sehen war, ließ sie sich von den Läden ein Stück weiter in die Straße hineinlocken.
Marieta trottete immer brav hinterdrein, als Léonie in Richtung Fluss ging, bei mehreren Antiquitätenhändlern stehen blieb und durch die Schaufenster spähte. Die Auslagen einer
librairie
waren voll mit Bücherregalen aus dunklem Holz und Bänden mit roten, grünen und blauen Lederrücken. Bei Hausnummer 75 , einer
épicerie fine,
roch es
Weitere Kostenlose Bücher