Die achte Karte
schossen Wasserfontänen gen Himmel und warfen einen weißen Dunstschleier in die Luft. Rings um einen Musikpavillon im japanischen Stil waren Stühle aufgestellt. Ihre chaotische Anordnung sowie die verstreut herumliegenden Eiswaffeln, Wachspapiere und nassen Zigarrenstummel verrieten, dass die letzte Aufführung noch nicht lange beendet sein konnte. Der Boden war übersät mit weggeworfenen Reklamezetteln für ein Konzert, dreckige Schuhabdrücke auf dem weißen Papier. Léonie bückte sich und hob einen auf.
Von dem grünen und schön gestalteten Square Gambetta bog sie nach rechts auf eine recht triste Kopfsteinpflasterstraße, die entlang des Hospitals verlief und zu einem Aussichtspunkt mit Panoramablick unten an der Pont Vieux zu führen versprach.
Eine Messingstatue krönte den Springbrunnen, der an der Stelle stand, wo drei Straßen aufeinandertrafen. Léonie rieb die Plakette sauber und las die Inschrift. Die Figur stellte wahlweise La Samaritaine oder Flora oder gar Pomona dar.
Als Hüter der klassischen Heldin diente ein christlicher Heiliger, Saint Vincent de Paul, der vom Hôpital des Malades aus, dem Zugang zur Brücke, die Szene im Auge behielt. Sein gütiger Steinblick und seine offenen Arme schienen die angrenzende Kapelle mit ihrem hohen gewölbten Steineingang und der Fensterrosette darüber zu umschließen.
Das Ganze verriet Wohltätigkeit, Geld, Überfluss.
Léonie drehte sich ganz um und hatte ihren ersten unverstellten Blick auf La Cité hoch oben auf einem Berg am anderen Flussufer. Ihr stockte der Atem. Die Zitadelle war überwältigender und zugleich von der Größe her menschlicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie kannte die beliebten Ansichtskarten von der Cité, auf denen die berühmten Zeilen aus Gustave Nadauds Chanson abgedruckt waren: »
Que je mourrais content/Après avoir vu Carcassonne!«
– Wie glücklich würd’ ich sterben, hätt’ ich zuvor noch Carcassonne gesehen –, hatte das Zitat aber lediglich für einen Reklamespruch gehalten. Jetzt, da sie hier war, konnte sie die Worte gut nachvollziehen.
Léonie sah, dass das Wasser sehr hoch stand, stellenweise sogar über das Ufer getreten war und das Gras überschwemmte, gegen die steinernen Fundamente der Kapelle Saint-Vincent-de-Paul und der Hospitalgebäude spülte. Sie hatte wirklich nicht vor, Anatoles Verbote noch weiter zu missachten, aber dennoch ging sie ein Stück den sanft ansteigenden Zugang zur Brücke hinauf, die sich in einer Reihe von Steinbögen über den Fluss spannte.
Nur noch ein paar Schritte, dann mache ich kehrt.
Das andere Ufer war überwiegend bewaldet. Durch die Baumwipfel und Äste konnte Léonie Wassermühlen sehen, die flachen Dächer der Destillerien und Textilbetriebe mit ihren
filatures mécaniques.
Es wirkte verblüffend ländlich, fand sie, Relikte einer anderen, älteren Welt.
Léonie blickte auf und sah eine verwitterte steinerne Jesusfigur an einem Kreuz im mittleren
bec
der Brücke hängen, eine Nische in der niedrigen Mauer, wo Reisende ein wenig verweilen oder den Kutschen und Pferdekarren ausweichen konnten.
Sie machte noch einen Schritt und noch einen, und so geschah es, dass sie, ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben, von der Sicherheit der Bastide hinüber in die Romantik der Cité gelangte.
Kapitel 57
∞
A natole und Isolde standen vor dem Altar.
Eine Stunde zuvor waren alle Papier unterschrieben worden. Die in Jules Lascombes Testament festgelegten Bestimmungen waren nach den Verzögerungen im Sommer endlich bestätigt worden.
Lascombe hatte die Domaine de la Cade auf Lebenszeit an seine Frau vermacht. Eine unerwartete Laune des Schicksals wollte es, dass er für den Fall ihrer erneuten Eheschließung verfügt hatte, dass der Sohn seiner Halbschwester Marguerite Vernier, geborene Lascombe, den Besitz übernehmen sollte.
Als der Anwalt diese Klauseln mit seiner trockenen und kratzigen Stimme verlas, hatte Anatole einen Moment gebraucht, um zu begreifen, dass er gemeint war. Fast hätte er laut aufgelacht. Die Domaine de la Cade würde so oder so ihnen gehören.
Jetzt, da sie eine halbe Stunde später in der kleinen Jesuitenkapelle standen und der Priester sie mit den Schlussworten der kurzen Zeremonie zu Mann und Frau erklärt hatte, nahm Anatole Isoldes Hände.
»Madame Vernier,
enfin«,
flüsterte er.
»Mon cœur.«
Die Zeugen, die sie wahllos auf der Straße ausgesucht hatten, lächelten, als sie sahen, wie offen die Vermählten ihre Zuneigung
Weitere Kostenlose Bücher