Die Achtsamkeits-Revolution
Geistestraining und das Ergründen von Koans, Chanten oder Praktiken der Andacht und Hingabe: Es wurde weithin ein ganzes Spektrum buddhistischer oder vom Buddhismus beeinflusster Techniken und Methoden von Gesellschaftskulturen übernommen, die historisch gesehen nicht vom Buddhismus geprägt sind. Doch erstaunlich ist, dass viele gegenwärtig gepflegte kontemplative Traditionen nur sehr wenig Nachdruck auf die Entwicklung von anhaltender Achtsamkeit legen. Einige modern gesinnte Lehrer des Theravada-Buddhis- mus behaupten, dass für die Einsichts-Meditation nur ein »momenthaftes Shamatha« vonnöten sei, womit gesagt wird, dass ein Geisteszustand anhaltend fokussierter Achtsamkeit unnötig ist. Im frühen chinesischen Buddhismus war der Wert von Shamatha anerkannt. Im modernen Zen werden hingegen keine Methoden gelehrt, die, von seinen anderen Übungspraktiken abgesehen, ganz speziell auf eine anhaltende, rigorose Schulung der ins Gleichgewicht versetzten Achtsamkeit abzielen.
Im Gegensatz dazu gibt der tibetische Buddhismus detaillierte Anweisungen, wie man zu konzentrierter Achtsamkeit gelangt. Deshalb verwundert es umso mehr, dass sich unter den tibetischbuddhistisch Meditierenden, in und außerhalb von Tibet, nur sehr wenige der anhaltenden Shamatha-Praxis widmen. Kaum irgendjemand beherzigt den Rat der großen Meditierenden aus Tibets Vergangenheit, demzufolge das Erreichen von Shamatha notwendig ist, um alle fortgeschrittenen Formen von Meditation voll und ganz wirksam werden zu lassen. Ein Geist, der sich leicht ablenken lässt oder zur Dumpfheit neigt, ist für jede Art Meditation ganz einfach ungeeignet. Ich finde es erstaunlich, dass die Schulung des Konzentrations- und Achtsamkeitsvermögens sowohl in der modernen Wissenschaft wie auch in vielen kontemplativen Traditionen derart an den Rand gedrängt wurde. So schrieb ich dieses Buch auch im Wunsch, dazu beizutragen, dass dieser Vernachlässigung sowohl in den Wissenschaftskreisen wie in den buddhistischen Gemeinschaften abgeholfen wird. Mein noch größerer Wunsch aber ist, all jenen Instrumente an die Hand zu geben, die an einer vollständigen Schulung ihres gesamten Achtsamkeitspotenzials interessiert sind. Sind wir in unserer Aufmerksamkeit beeinträchtigt, ist dies allem, was wir tun, abträglich. Die gut fokussierte Aufmerksamkeit wirkt sich dagegen auf unser gesamtes Tun positiv aus. Für die Shamatha-Praxis brauchen wir keinem religiösen Glauben oder irgendeiner Ideologie anzuhängen. Sie ist der Schlüssel zu einer mentalen Ausgewogenheit, deren Vorteile allen, die sich dieser Praxis ausdauernd widmen, zugute kommen.
MEINE EIGENE GESCHICHTE
Von Anfang an, seit ich 1972 zum ersten Mal etwas von Shamatha hörte, fühlte ich mich äußerst stark davon angezogen. Meine Begeisterung dafür hat nie nachgelassen, und meine Wertschätzung für dessen große Bedeutung hat mit den Jahren nur noch zugenommen. Als ich im Frühjahr 1972, im Verlauf meines Studiums des tibetischen Buddhismus, zum ersten Mal etwas von der Möglichkeit erfuhr, die Achtsamkeit zu schulen, war ich sofort fasziniert. Damals lebte ich in Dharamsala, in Indien, und erhielt von einem Lama namens Geshe Ngawang Dhargyey Unterweisungen in der tibetischen Tradition geistiger Weiterentwicklung. In den folgenden Monaten und Jahren gab er mir dann detaillierte Belehrungen über verschiedene Techniken der Geistesschulung. Doch ich war ganz besonders an seinen Unterweisungen zur Entwicklung von fokusierte Achtsamkeit interessiert, da ich erkennen konnte, wie enorm bedeutsam sie für alle Arten menschlicher - profaner und spiritueller - Bemühungen war.
Seine Beschreibung des Shamatha-Trainings klang plausibel, und die Resultate, die sich angeblich damit verbanden, nahmen sich außergewöhnlich aus. Gegen Ende seiner Shamatha-Unter- weisungen schlug er unserer etwa aus einem Dutzend Schülern bestehenden Klasse vor, gemeinsam zu meditieren. So säßen wir also alle aufrecht auf unseren Kissen und konzentrierten uns intensiv auf das Meditationsobjekt. Wir dachten an eine kurze Sitzung, vielleicht eine halbe Stunde oder so. Doch der Lama saß unbeweglich wie ein Fels immer weiter da, während wir Schüler allmählich zappelig wurden, unser Geist zu wandern begann und die Schmerzen im Rücken und in den Knien immer stärker wurden. Schließlich tauchte er nach drei Stunden aus der Meditation auf. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein zufriedenes Lächeln und sein mit sanfter
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