Die Adler von Lübeck: Historischer Roman
Skandal war es nie gekommen. Die Vorfälle blieben im Schoß der Familie, die Männer erhielten ihre Strafen von Ehefrau und Familie und lebten fortan unter einer unbarmherzigen moralischen Fuchtel.
Katharina lebte in einer Gemeinschaft mit Milena, ihrer 14-jährigen Schwester, und ihrem Vater, der vor Jahren fast in einem Fischteich ertrunken wäre und seitdem als wunderlich galt. Er hatte einige Minuten unter Wasser zugebracht, bevor zwei Männer nach ihm getaucht waren und ihn an Land gezogen hatten. Der Vater konnte sich nicht konzentrieren und schweifte beim Reden nach wenigen Sätzen zu anderen Themen ab, bei denen er es auch nicht lange aushielt. Dabei blieb er stets freundlich und sanft. Das war die größte Veränderung, die er durch den Unfall erlitten hatte. Vorher war er ein rauer Bursche gewesen, der nicht viel redete und entweder zuschlug oder in die Kneipe auswich, aus der er vom Wirt mit den letzten Gästen herausgekehrt wurde.
Katharinas Mutter war früh gestorben, sie hatte lange gehustet, zuletzt auch Blut, und war immer schwächer geworden. Zwei kleine Geschwister waren gestorben, bevor sie das Sprechen gelernt hatten. Die Familie war immer arm gewesen. Seitdem der Vater nicht mehr arbeiten konnte, hatte es Tage gegeben, an denen nichts Essbares auf dem Tisch gestanden hatte, von dem man nicht den Schimmel hatte abschneiden müssen. Jetzt versorgte Katharina die Familie oder was von ihr übrig geblieben war.
Es gab nicht viele Menschen, die wussten, in welch kümmerlichen Verhältnissen die junge Hebamme lebte. Natürlich wusste Trine Deichmann Bescheid. Nur weil sie Katharina in den Ohren gelegen hatte, pilgerten Katharina und ihre Leute jeden Montag in die Fluchbüchse, wo sie sich satt aßen und nichts bezahlen mussten. »Ich habe das Gefühl, als würden mich alle mitleidig angucken«, hatte Katharina immer wieder gesagt, so lange, bis Trine sie vor die Wahl gestellt hatte, entweder das Klagen einzustellen oder das Essen in Trines Wohnung einzunehmen. Trine hatte gesagt: »Es geht nicht an, dass Ihr unsere stolzesten Gäste seid, während jeder Kaufmann und Offizier sich manierlich benimmt.«
Den Rest hatte Joseph besorgt. Seinem Charme konnte sich Katharina nicht entziehen. Er hatte auch so eine selbstverständliche Art, ihrer kleinen Schwester schönzutun und dem verwirrten Vater ohne Herablassung gegenüberzutreten. Dabei hatte Katharina wochenlang nach Zeichen heimlicher Geringschätzung gesucht, bevor sie beschämt das eitle Tun eingestellt hatte. »Ich muss mich eben mit dem Gedanken anfreunden, dass es Menschen gibt, die einfach nur freundlich sind«, hatte sie gesagt.
Wenn Katharina ihre Arbeit getan hatte und zu Hause Ruhe eingekehrt war, widmete sie sich einer Liebhaberei, die sie seit einigen Jahren betrieb. Katharina schrieb ihre Erlebnisse auf. Dies geschah in Gestalt von Briefen, die sie an eine imaginäre Freundin schrieb. Manchmal, wenn ihr danach war, richtete sie ihren Brief auch an ihren Mann, der in den Krieg gezogen war oder weit im Osten den Russen Pelze abkaufte. Katharina hatte einige Kavaliere und immer wieder neue, aber sie wollte sich nicht binden, weil sie befürchtete, dann nicht mehr arbeiten zu können. Nicht jede Frau traf es so gut wie Trine Deichmann, deren Joseph offenbar in Frieden mit ihrer Berufstätigkeit lebte.
Insgeheim war Katharina hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Mann und Kindern und der Freude an ihrem jetzigen Leben. Sie musste niemandem Rechenschaft ablegen, die Schwester war schon recht selbstständig, und der Vater, wiewohl nicht gesund, verlangte nicht oft nach Pflege. Manchmal verließ er das Haus, wandte sich nach rechts oder links und ging dann so lange geradeaus, bis ihn jemand erkannte und nach Hause zurückbrachte. Das geschah jede Woche und nahm Katharina manche Mühsal ab. Ein frecher Kavalier, ein junger Lehrer der Gelehrtenschule, brachte den Vater geschlagene vier Mal zurück, bevor Katharina dem Filou darauf kam, dass hier ein abgekartetes Spiel lief. Dem Vater war ein Humpen Bier versprochen worden, wenn er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort einfinden würde. Dann gab’s den Humpen, danach ging man um zwei Ecken, bevor man Katharina oder der Schwester einen Bären aufband und so tat, als habe man den Vater kurz vor Erreichen des Meeres getroffen. Der Lehrer war nicht ohne Charme, Katharina hatte ihm erlaubt, sich mit ihr zu treffen, mehr nicht.
Von dieser Art waren die Erlebnisse, die
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