Die Akte Daniel (German Edition)
unterdurchschnittlich oder Durchschnitt. Er hoffte aber, dass es dennoch genügte, egal was der Test erbrachte und er damit bleiben durfte. Niemand hatte ihm gesagt, dass er gehen musste, wenn er zu wenig konnte. Aber ganz ohne ausreichende Begabung war sein Aufenthalt hier sicherlich nicht mehr so erwünscht. Zumindest konnte er sich das nicht vorstellen.
Als er Kate dazu befragt hatte, hatte sie ihm gesagt, dass es keine Rolle spielte. Wer begabt war, egal wie schwach oder stark, durfte bleiben. Es beruhigte ein wenig, nahm aber kaum etwas von seiner Aufregung.
Sunday klopfte ihm an diesem bestimmten Morgen lediglich auf die Schulter und schickte ihn erbarmungslos zu Mrs. Terranto. »Du schaffst das!«, hatte er ihm gesagt. Daniel beruhigte das noch weniger.
Auch gefiel ihm die offizielle Atmosphäre in Mrs. Terrantos Büro nicht, obwohl sie ihn so herzlich wie immer begrüßte. Etwas verunsichert nahm Daniel ihr gegenüber Platz.
»Du bist jetzt seit vier Wochen bei uns«, begann sie und sein Herz machte einen schmerzhaften Schlag, als das Adrenalin in seine Adern schoss, »und langsam müssen wir uns die Frage stellen, ob du hier bleiben willst oder nicht. Hast du dich inzwischen entschieden?«
Daniel presste die Lippen aufeinander. Einfache Fragen führten meist zu komplizierten Antworten, soviel hatte er im Leben schon festgestellt. So fiel ihm diese Antwort auch nicht leicht. Oh, er hatte darüber nachgedacht. Immer wieder. Vor einem Monat wäre es ihm jedoch noch schwerer gefallen, eine Entscheidung zu treffen – trotz der vielen Dinge, die ihm gleich zu Anfang geschehen waren. Jetzt wusste er jedoch definitiv: Er wollte gern hier bleiben. Hier auf dieser Schule gab es für sein Problem Hilfe. Das war es, was er sich wünschte.
Aber er wusste nicht, was passieren würde, wenn er sagte, dass er blieb. Noch nahmen die anderen mehr Rücksicht auf ihn. Ob es so bleiben würde, konnte er nicht sagen. Alles hier war wie ein perfekter Traum. Vielleicht war es einfach zu perfekt, um unumwunden Ja sagen zu können. Er hoffte, dass es ihm bald gelingen würde, sich selbst schützen zu können. Darauf hoffte er. Darum betete er.
»Ich würde gern bleiben, wenn ich darf«, sagte er. »Ich hoffe, dass ich auch bleiben kann, wenn ich kein so starker Telepath bin und dass ich vielleicht meine Eltern irgendwann wiedersehen darf.«
Mrs. Terranto lächelte ein bisschen geheimnisvoll, aber sie sah ihn auch voller Verständnis an. »Wir haben dir von Anfang an angeboten, hier zubleiben, und der Grad deiner Kräfte hat und hatte damit nichts zu tun. Nichtsdestotrotz werde ich dich nun offiziell testen und das Ergebnis vermerken; danach werden wir den entsprechenden Unterricht anberaumen. Was deine Eltern anbelangt: Es wird wohl so sein, dass du sie lange nicht sehen wirst, wenn du erst einmal offiziell hier bist. Ich will dich da nicht anlügen. Wir wissen, dass du gefährdet bist. Gefährdet vor allen Dingen, wenn du dich noch nicht selbst schützen kannst. Wenn du jedoch darauf bestehst, werden wir ein Treffen zu arrangieren versuchen. Nichtsdestotrotz hoffen wir, dass du diesen Wunsch so lange zurückstellst, bis du auf eigenen Beinen stehen kannst. Das ist alles. Mehr wollen wir nicht. Wir wollen nur, dass es dir gut geht.«
»Einfach so?«, fragte Daniel ungläubig.
Mrs. Terranto nickte ernst. »Einfach so. Weil wir, jeder Einzelne hier, vor langer Zeit diese Aufgabe wählte. Nicht jeder hier ist ein Begabter; die meisten sind es nicht. Wir helfen Menschen, wie du es einer bist. Menschen, die sonst keiner versteht. Für die viele kein Verständnis haben, vielleicht sogar Angst. Ich weiß, was du denkst: Es muss nur einen Haken geben. Ja, den gibt es und den habe ich dir nicht verschwiegen. Und es gibt noch einen: Du wirst viel, sehr viel lernen müssen. Wir erwarten von dir alles, wenn du bleibst. Hausaufgaben, Fleiß und so lange du noch so schnell Schnupfen bekommst, keine Ausflüge mit den Nachtlingen.«
Daniel musste ein schuldbewusstes Zusammenzucken unterdrücken. Zeitgleich fiel ihm ein Stein vom Herzen. »Danke!«, murmelte er, dann musste er unwillkürlich lächeln. »Danke, dass Sie allen hier helfen.«
»Das ist schließlich unsere Aufgabe und es ist unsere Berufung.« Die mollige kleine Frau stand von ihrem Schreibtisch auf, zog einen Stuhl heran und setzte sich direkt vor Daniel. Sie sah ihn eine Spur erwartungsvoller an.
»Ich weiß, dass du dich vor diesem Teil an meisten fürchtest. Aber das
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