Die Akte Golgatha
Cousin Lagermann einfach stehen ließ, kam gar nicht selten vor. Angeheizt von der nötigen Menge Alkohol, war dessen Redefluss kaum zu bremsen, und dabei wurde er allzu leicht ausfällig.
Kaum war Fichte verschwunden, sah Breddin seine Stunde gekommen, mehr aus Lagermann herauszuholen, als dem später lieb sein konnte. Deshalb stellte er unumwunden die nächste Frage: »Hat Professor Gropius eigentlich Feinde?«
»Feinde?« Lagermann schluckte. Er war bereits an dem Punkt angelangt, wo es ihm schwer fiel, eine kluge Antwort zu geben. Nach einer Weile scheinbaren Nachdenkens platzte es aus ihm heraus: »Ja, mich natürlich. Als Freund würde ich ihn jedenfalls nicht betrachten.« Dabei lachte er endlos lange und gekünstelt, sodass andere Gäste im Lokal bereits aufmerksam wurden.
»Und außer Ihnen?«
Lagermann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie müssen wissen, unter den Medizinern einer Klinik bricht jeden Morgen der Dritte Weltkrieg aus. Die Kriegsgründe sind für Außenstehende lachhaft: ein besserer Parkplatz, ein teureres Auto, das besser gelegene Zimmer, die schönere Sekretärin, die prominenteren Patienten. Konkurrenzneid und Ruhmsucht treiben die seltsamsten Blüten. Einem armen Pathologen wie mir bleibt all das weitgehend erspart. Ich habe keine Konkurrenz, und den Ruhm kann mir niemand streitig machen, denn es gibt keinen. Oder kennen Sie einen berühmten Pathologen? Meine Patienten brauche ich nicht sonderlich behutsam zu behandeln – sie sind alle schon tot; und egal ob Penner oder Promi, sie unterscheiden sich nur durch das an der kleinen Zehe befestigte Namensschild.«
Lagermann blickte mit schweren Augenlidern vor sich auf die Theke, und ohne den Reporter anzusehen fuhr er fort: »Wissen Sie eigentlich, wie scheußlich so ein Mensch von innen aussieht? An seinem Äußeren hat der Mensch Jahrtausende gearbeitet, er wurde immer schöner, immer begehrenswerter. Denken Sie nur an den Diskuswerfer des Myron oder Michelangelos David! Aber unter der Haut sind wir noch genauso grässlich und unvollkommen wie vor einer Million Jahren. Haben Sie schon einmal das Herz eines Menschen gesehen, so einen von gelbem Fett umgebenen unförmigen Muskelklumpen, oder eine Leber wie ein im Wald verschimmelter Schwamm oder verkalkte Arterien, die wie Unterwassergestrüpp in einem Tümpel aussehen? Und das alles tagtäglich zwischen Frühstück und Mittagessen!« Lagermann steckte den Zeigefinger in sein Schnapsglas und fuhr weinerlich fort: »Ich sage Ihnen, Breddin, all das können Sie nur mit dem nötigen Quantum Alkohol ertragen. Breddin?«
Lagermann blickte auf und suchte verwirrt nach seinem Gegenüber. Aber Breddin war längst verschwunden.
Am nächsten Morgen titelte die Bild- Zeitung : ›Mysteriöser Todesfall in Uniklinik‹. In dem Artikel wurde Professor Lagermann mit den Worten zitiert: »Der Fall wirft kein gutes Licht auf unsere Klinik! Es wäre wünschenswert, wenn der Schuldige bald ersetzt würde.«
An allen Straßenecken sprang Gropius die Schlagzeile entgegen, als er an diesem Morgen in die Klinik fuhr. Ihm war, als ob die Menschen an den Fußgängerampeln ihn anstarrten, und manche, schien es ihm, zeigten mit Fingern auf ihn und feixten schadenfroh. Um dem Spießrutenlauf zu entgehen, presste er die Stirn auf das Lenkrad, bis die Ampel auf Grün schaltete und er durch ungeduldiges Hupen in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Als er ein Stück an der Isar entlangfuhr, überlegte er allen Ernstes, seinen Jaguar über die hohe Ufermauer in den Fluss zu lenken; aber ein Sturz in den Fluss brachte keineswegs die Gewissheit zu sterben. Und wäre es nicht viel mehr die Anerkennung seiner Schuld?
Verfolgt von derlei Gedanken nahm er den Weg in die Klinik, von alter Gewohnheit gelenkt wie ein Esel, der sogar blind seinen Stall findet. Später hatte er keine Erinnerung mehr, wie er den Weg zurückgelegt hatte. Er wusste auch nicht, wie es zu dem Folgenden kam.
Denn entgegen sonstiger Gewohnheit nahm Gregor Gropius, nachdem er seinen Wagen abgestellt hatte, nicht den Lift nach oben, er drückte viel mehr den Knopf nach unten, wo die Pathologie gelegen war. Wie ein Gespenst tauchte Lagermann in einem langen weißen Kittel am Ende des Ganges auf, der zum Sezierraum führte. Gropius hatte sich, als er in den Lift stieg, vorgenommen, Lagermann zur Rede zu stellen, mehr nicht. Aber nun, in dem von grellem Neonlicht erhellten Korridor, wo die Augen in abgedunkelten Höhlen verschwanden, standen
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