Die Akte Golgatha
verabschiedeten sich die Männer mit Handschlag, und dabei fiel das Licht auf das Gesicht des anderen Mannes, der einen ganzen Kopf größer war als Fichte. »Prasskov!«, zischte Gropius leise und machte Anstalten, aus dem Taxi zu springen, als sein Verstand ihm Einhalt gebot.
Prasskov und Fichte? Was hatten die beiden gemein? Gropius hätte schwören können, dass sie sich nicht einmal kannten. Mit dieser neuen Situation konfrontiert, schossen tausend Gedanken durch sein Gehirn, Gedanken, die er noch vor wenigen Augenblicken als absurd, irreal und phantastisch abgetan hätte. Prasskov, der von der Polizei gesucht wurde, ging bei Fichte ein und aus!
Unsicher, wie er sich verhalten sollte, beobachtete Gropius, wie Fichte ins Haus zurückkehrte, während Prasskov seinen Wagen, einen schweren alten Mercedes, startete. In seinen Gedanken gefangen, war Gropius nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Wie gelähmt sah er zu, wie der Wagen vor ihm anfuhr und den Weg stadteinwärts nahm.
Erst der Taxifahrer brachte ihn zur Besinnung: »Wollen Sie jetzt endlich aussteigen, oder haben Sie es sich anders überlegt?«, meinte er mit dem angeborenen Charme Münchner Droschkenkutscher.
»Ja«, entgegnete Gropius abwesend.
»Was, ja?«, hakte der Mann am Steuer nach.
Gropius sah die Rücklichter des alten Mercedes vor ihnen immer kleiner werden. »Folgen Sie diesem Wagen!«, sagte er plötzlich.
Und der Taxifahrer meinte zynisch: »Wie Sie wünschen.« Er sah gerade noch, wie das Fahrzeug vor ihnen an der nächsten Straßenkreuzung nach rechts abbog. Als er die Stelle erreichte und nach dem Mercedes Ausschau hielt, war das Auto wie vom Erdboden verschluckt.
Mitten in der Nacht wachte Gropius auf. Er hatte unruhig geschlafen, immer wieder von Träumen geplagt, in denen er mit einem Aluminiumkoffer voll menschlicher Organe, klumpigen Herzen, labberigen Lebern und speckigen Nieren verfolgt wurde. Er erkannte die Gesichter seiner Verfolger nicht, aber allein ihre Schatten wirkten bedrohlich. Auch das Ziel, das er mit dem unheimlichen Koffer zu erreichen versuchte, blieb ihm unbekannt, sodass er, schweißgebadet, froh war, die dunklen Gestalten abschütteln zu können.
Wieder und wieder ging ihm Prasskov durch den Sinn. Hatte er sich so in dem sympathischen Schönheitschirurgen getäuscht? Vielleicht hatte Prasskov seine Freundschaft nur deshalb gesucht, um ihn zu gegebener Zeit für seine Zwecke einzuspannen? Aber was für Zwecke sollten das sein? Jedenfalls erschütterte ihn die Tatsache, dass Prasskov mit Fichte offenbar gemeinsame Sache machte, bis ins Mark. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, aber mittlerweile schien ihm der Gedanke nicht mehr so abwegig, Schlesinger und er selbst könnten zwischen die Fronten der Organmafia geraten sein.
Wie betäubt und nur von diesem einen Gedanken besessen, schlich Gropius in die Küche im Erdgeschoss, holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und leerte sie, weniger weil er Durst hatte als aus Verzweiflung. Dann legte er sich wieder ins Bett und starrte, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf den Lichtschein, der von der Straße ins Zimmer fiel und ein geometrisches Muster an die Decke zeichnete. Wider Erwarten schlief er ein.
Das grelle Licht der aufgehenden Sonne weckte Gropius, und er wunderte sich, dass er doch noch geschlafen hatte. Nach einem kurzen Aufenthalt im Bad bereitete er sein Frühstück – falls man eine Tasse Pulverkaffee und zwei angebrannte Scheiben Toast als solches bezeichnen will. Dabei kämpfte er mit dem Gedanken, ob er seine Beobachtung vom vergangenen Abend der Polizei melden sollte. Immerhin wurde Prasskov gesucht. Doch das heimliehe Treffen zwischen Prasskov und seinem loyalsten Mitarbeiter, dessen unfreiwilliger Zeuge er geworden war, hatte ihn so aus der Fassung gebracht, dass er einfach nicht den Mut fand, Fichte zu denunzieren. Zudem hatte er nicht den geringsten Beweis für seine Behauptung. Und je länger er über die unerwartete Entdeckung nachdachte, desto klarer wurde Gropius, dass sie mehr Fragen aufwarf als beantwortete.
Es mag gegen zehn gewesen sein, als ihn die Hausglocke aus seinen Gedanken riss. Gropius erschrak. Seit ein paar Tagen jagte ihm alles Unerwartete einen Schrecken ein. Vor der Tür stand ein hagerer, glatzköpfiger Mann, gut gekleidet und von einnehmendem Äußeren, sodass Gropius keine Bedenken hatte zu öffnen.
»Mein Name ist Lewezow, und ich bitte meinen unangemeldeten Besuch zu
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