Die Albertis: Roman (German Edition)
mitgebracht hatte. Die Holzkrippe aus Bayern, die sie von Ingrid und ihrem Mann vor zwanzig Jahren zu Weihnachten bekommen hatte. Zu all den Dingen, die der Familie Alberti gehörten, kamen noch jene der Familie Ross, die Sybille alle zurückgelassen hatte. Lichterketten, Duftkerzen, Wachsengel. Eigentlich war es viel zu viel, doch Anne dachte «genug ist nie genug» und bat Frau Merk, die Kartons beiseite zu räumen, bis sie Zeit fände, alles zu dekorieren.
Bei einem Gärtner hatte Anne zwei Stiegen roter Weihnachtssterne bestellt – Lieferung am kommenden Samstag –, auf dem Wochenmarkt ein halbes Dutzend Tannenkränze gekauft. Eigentlich wollte sie zusammen mit den Mädchen das Haus schmücken. Doch Anuschka war voll und ganz mit ihrer Arbeit für die Schule beschäftigt. Sie stand im letzten Jahr vor dem Abitur; und da sie plante, danach ins Ausland zu gehen, büffelte sie unermüdlich, um einen bestmöglichen Abschluss hinzulegen.
Auch Laura hatte neuerdings andere Ambitionen. Seit einiger Zeit klingelte fast jeden Tag, pünktlich wie ein Maurer, ein junger Mann an der Haustür, um sie zu besuchen. Er war ein Klassenkamerad von Laura, zwölf Jahre alt, zweimal sitzen geblieben. Nicht gerade der Hellste, wie Anne fand, aber Laura war entzückt von ihm. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Konstantin taufen lassen, aber er hörte lieber auf Connie, der Himmel weiß, warum. Er hatte Pickel für siebzehn Personen, seine Wachstumshormone hatten Übermenschliches geleistet: Als Anne das erste Mal an ihm hochsah, fühlte sie sich an die Wolkenkratzer in New York erinnert. Connie hatte Schuhgröße 46, nichts an ihm schien im Lot zu sein, er lispelte, nuschelte, trug eine Zahnspange, wurde rot, sobald ein Erwachsener ihn ansprach, und war spindeldürr. Ein paar Mal ertappte sich Anne dabei, wie sie oben im Flur auf und ab ging, vor Lauras Zimmer stehen blieb, lauschte, und wenn es drinnen so unheimlich still blieb und sie mit sich haderte, ob sie nicht anklopfen und hineingehen und einfach mal so fragen solle: «Braucht ihr noch was ?» Abends im Bett löcherte sie Paul mit der Frage, ob er sicher sei, seine Jüngste richtig aufgeklärt zu haben. Er lachte über ihre Bedenken. Dass auch nur ein Anflug von Sex auf leisen Flügeln in das Zimmer seiner Tochter hineinschweben könne, hielt er für unmöglich. Doch wenn Laura ihren Freund an der Haustür verabschiedete, jeden Tag wiederum pünktlich um sechs (Anne fragte sich, was diese genaue Zeiteinteilung zu bedeuten und ob er noch andere Hausbesuche zu absolvieren habe – sie misstraute nach wie vor Männern aller Altersklassen), wenn sie mit roten Backen und leuchtenden Augen vor Anne stand und immer wieder fragte: «Wie findest du ihn? Ist er nicht süß?», dann war sie sich keinesfalls so sicher wie Paul.
Luis konnte mit dieser ganzen Geschichte überhaupt nichts anfangen. Ohnehin war Laura für ihn gestorben. Er verzieh ihr nicht, dass sie ihm untreu geworden war und offenbar schneller erwachsen wurde als er. Also suchte er sich eine neue Freundin. Und die hieß Brigitte. Seit längerem schon hatte Anne es arrangiert, dass an den Wochenenden, an denen Anuschka und Laura bei Sybille und Ruth waren, Luis bei seinem Vater und dessen Freundin verbrachte. Brigitte hatte in ihrer zupackenden Art schnell Luis' Herz für sich gewonnen. Die ganze Woche über simste er mit ihr, wie er sich ausdrückte: Sie schickten sich über das Handy kurze SMS-Nachrichten. Und jeden Tag hatte er eine neue Nachricht parat. Brigitte hat dies gesimst und Brigitte hat das gesimst wurde zu seiner stehenden Rede. Gerade gestern erst hatte er die Familie mit einer Meldung überrascht, die Anne lieber von Wolf direkt erfahren hätte.
«Papa hat die Scheidung eingereicht.» Er strahlte seine Mutter an. «Du kriegst nächste Woche Post von seinem Anwalt!»
Anne hatte abends neben Paul im Bad gestanden, beide vor dem Spiegel, beide mit ihren elektrischen Zahnbürsten in der Hand, und darüber räsoniert, wie seltsam es doch sei, dass immer wieder etwas Überraschendes passierte, womit man nicht gerechnet hatte, dass Menschen, selbst wenn man glaubte, man kenne sie ganz genau (so wie sie Wolf), ein Verhalten an den Tag legten, das überhaupt nicht zu ihnen passte.
«Wie kann er die Scheidung einreichen, ohne vorher mit mir darüber zu reden?», fragte sie, stellte die Zahnbürste aus und spuckte in das Waschbecken. «Und wie kann er zulassen, dass ich es auf solche Weise erfahre? Über eine
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