Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
unermeßlichen Reichtümern zehre und, ganz offensichtlich, auf irgend etwas wartete.
Ohne sich auszukleiden, versuchte Aura die verbliebenen Stunden der Nacht auf dem Sofa zu schlafen. Der nächste Tag würde die Entscheidung bringen. Seit sieben Jahren fieberte sie diesem Augenblick entgegen, und die Aufregung ließ sie kaum Ruhe finden.
Irgendwann aber schlief sie doch noch ein, denn als sie erwachte, war Christopher bereits auf den Beinen, stand reglos am Fenster und betrachtete die Morgendämmerung über den Dächern. Aura tat mehrere Minuten lang, als schlafe sie noch, und dabei beobachtete sie ihn verstohlen. Das Rot der aufgehenden Sonne ergoß sich über seine knochigen Züge und den kahlrasierten Schädel. Aura sah, daß Tränen in seinen Augen glänzten. Christopher weinte im Angesicht der Freiheit, lautlos, und sie wollte ihn nicht dabei stören.
Da sagte er mit einem Mal: »Ich weiß, daß du wach bist.«
Sie fühlte sich überrumpelt und richtete sich hastig auf dem Sofa auf. »Dir ist doch klar, warum ich dich rausgeholt habe, oder?« fragte sie ihn barsch, um von ihrer Verwirrung abzulenken.
Seine Mundwinkel verzogen sich, aber er sah sie nicht an. Sein Blick war weiterhin auf die erwachende Stadt gerichtet. »Du läßt einem keine Illusionen, was?«
»Ich fürchte, sie helfen uns nicht weiter.«
»Vielleicht machen sie aber das Leben ein wenig erträglicher.«
»Ich dachte, diese Aufgabe hast du an Gott abgetreten?«
»Manchmal ist es wichtig, daß nicht nur er, sondern auch die Menschen einem verzeihen.«
Sie stand auf und trat neben ihn. Das Panorama von Wien war in diesem Licht überwältigend. »Du bittest mich ernsthaft um Verzeihung?«
»Du würdest sie nicht gewähren?«
»Nein.«
Er wandte sich zu ihr um. Die Morgensonne blitzte in seinen Augen. »Ich bitte dich trotzdem darum. Vielleicht wirst du deine Meinung eines Tages ändern.«
Ihr war unwohl bei seinen Worten, und wieder wußte sie nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wandte sich abrupt ab, um ins Bad zu gehen. Als sie seinen Blick in ihrem Rücken spürte, blieb sie kurz vor der Tür noch einmal stehen.
»Uns steht heute einiges bevor, fürchte ich.«
»Ja«, entgegnete er, »das dachte ich mir.« Und als sie nichts darauf erwiderte, fügte er hinzu: »Was genau hast du vor?«
»Wir werden das tun, was Gillian schon vor sieben Jahren tun wollte. Damals fehlten uns die Mittel.«
»Du willst Lysanders Hauptquartier stürmen?« Er wirkte nicht überrascht.
»Es ist nach wie vor die einzige Möglichkeit.«
»Ist es vernünftig, ihn mit den eigenen Waffen schlagen zu wollen?«
»Vernünftig? Nichts, was wir hier tun, ist vernünftig.«
Als sie ins Bad treten wollte, rief er: »Aura?«
Sie blieb stehen, ohne sich umzuwenden.
Eine merkwürdige Anteilnahme lag in Christophers Stimme, als er fragte: »Für wen tust du das eigentlich? Für Sylvette – oder für Gillian?«
Sekundenlang stand sie einfach nur da, den Kopf wie leergefegt, dann zog sie ohne eine Antwort die Tür hinter sich zu.
Die früheste Kanalisation Wiens war von den Römern angelegt worden, als die Männer der Dreizehnten Legion ihre Garnison Vindobona mit Abwassergräben zur Donau durchzogen. Die Legionäre waren es auch, die die ersten Aborte mit Wasserspülung errichteten – ein Umstand, der den Menschen des nachfolgenden Mittelalters höchst überflüssig schien. Kanal und sanitäre Errungenschaften gerieten in Vergessenheit, Hygiene verlor an Bedeutung. Erst nach der zweiten Belagerung durch die Türken im siebzehnten Jahrhundert gingen die Bewohner Wiens dazu über, ihre neuen Gebäude an die offenen Straßenkanäle anzuschließen. Als aber 1830 die Donau über die Ufer trat, überschwemmte sie tagelang die gesamte Stadt. Der Inhalt der Senkgruben und offenliegenden Kanäle wurde durch Häuser und Gassen gespült und führte zum Ausbruch der Cholera. Tausende starben. Als Folge davon legte man den Grundstein zum Labyrinth der Wiener Kanalisation, und so, wie sie gut siebzig Jahre zuvor ersonnen und verwirklicht worden war, bot sie sich auch heute noch dar: als dunkles, stinkendes Netz aus künstlichen Grotten und Höhlengängen, von deren Ziegeldecken das Wasser in kristallenen Fäden troff.
Der Gedanke an die Cholera stand einigen der zwei Dutzend Männer deutlich ins Gesicht geschrieben, als Aura und Christopher in ihrem Gefolge durch die Tunnel schritten. Sie waren Söldner, die auf dem Balkan und in den afrikanischen Kolonien
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