Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
irritiert.
»Ja, natürlich, aber ihre Gesetze sind nicht übersinnlich, sondern einfach nur anderssinnlich. Die Mächte der Natur werden nicht verneint, sondern auf eine neue Weise angewandt und ausgenutzt. Und es werden Kräfte berücksichtigt, deren Existenz von den übrigen Wissenschaften abgelehnt wird. Der Alchimist nutzt die Mittel der Natur und ahmt ihre geheimsten Vorgänge nach. Der Naturwissenschaftler dagegen unterdrückt und zerstört sie, arbeitet gegen die Natur statt mit ihr.« Nestor entzündete seine Pfeife und paffte graue Wolken in die Schwüle des Dachgartens. »Aber ich sehe, das alles verwirrt dich. Und wie könnte es auch anders sein?« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Was bringt es, einem Kind Zusammenhänge erklären zu wollen, die selbst die klügsten Köpfe nicht begreifen?«
»Ich bin kein Kind mehr«, empörte sich Christopher.
»Das solltest du aber sein«, widersprach Nestor. »Sei offen und wißbegierig wie ein Kind, und du wirst viel von mir lernen können.«
»Von Ihnen lernen?«
Der Glanz in Christophers Augen schien den Alten zu amüsieren, denn er beugte sich vor und lächelte. »Ab heute bist du mein Schüler.«
Ungläubige Begeisterung überkam Christopher, aber auch ein leichter Anflug von Ärger, daß er nicht einmal gefragt wurde. Und doch, ja, er wollte Nestors Schüler sein. Unedles Metall zu Gold. Ewiges Leben. Mochte der Alte darin eine Philosophie sehen, für Christopher waren dies vor allem weltliche Verlockungen, die es um jeden Preis zu erlangen galt.
Nestor lehnte sich abermals vor und zog aus seiner Hosentasche einen zeigefingerlangen Schlüssel. »Damit öffnest du die Tür zum Dachboden. Nimm ihn, er gehört jetzt dir.«
Wie im Traum streckte Christopher die Rechte aus und nahm den Schlüssel entgegen. Kalt lag er auf seiner Handfläche. »Warum gerade ich?« fragte er benommen.
Wie auf ein geheimes Stichwort flog hinter ihnen ein schmaler Durchgang auf, links neben dem Laboratorium. Die Tür mit dem Pelikanrelief.
Eine weibliche Stimme rief: »Das würde mich auch interessieren! Warum gerade er?«
Aura stürmte heran und baute sich wütend zwischen Nestor und ihrem Stiefbruder auf. Sie hielt einen Schlüssel in der Hand, der identisch war mit Christophers.
»Aura!« rief Nestor ohne echte Überraschung. »Ich hab dich gar nicht kommen hören. Hier, setz dich zu uns.« Der wunderliche Alte stand auf und bot seiner Tochter den Sessel an.
Aura aber dachte nicht daran, der Einladung nachzukommen. Sie blieb stehen und starrte ihren Vater teils zornig, teils fassungslos an.
»Warum tust du das? Er ist ein Fremder. Du hast Daniel kein einziges Mal das Angebot gemacht, ihn zu –«
Nestor fiel ihr ins Wort, sanft und doch ungeduldig. »Dieser junge Mann ist nicht Daniel, mein Kind.«
»Du weißt nichts über ihn. Nicht das geringste.«
»Aber ich weiß zuviel über Daniel.«
So viel Zorn spiegelte sich auf ihren Zügen, so viel Verachtung!
»Du hast dich nie bemüht, Daniel wirklich kennenzulernen.«
»Ein Fehler, den ich an Christopher wiedergutzumachen gedenke.«
»Ein wenig spät, meinst du nicht?« Sie atmete tief durch, als schnüre die Aufregung ihr die Luft ab.
»Aura«, sagte ihr Vater ruhig, »was verlangst du denn von mir? Daniel hat bewiesen, daß er zu schwach ist, um –«
Jetzt war sie es, die ihn unterbrach, und diesmal schrie sie fast. »Zu schwach? Herrgott, Vater, du solltest dich hören! Daniels Schicksal hat nichts mit Schwäche zu tun!«
Nestor blieb gefaßt. »Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen, mein Kind. Das hast du doch nicht vergessen, oder?«
»Er hatte einen Grund dazu.«
»Ein Sturz vom Pferd, na und?«
»Er wird niemals ein Kind zeugen können.«
»Du willst mir nicht allen Ernstes weismachen, das sei ein Grund, sich die Pulsadern aufzuschneiden!« Zum ersten Mal hob jetzt auch Nestor die Stimme, und es war, als wehe ein eisiger Wind über den Dachboden.
Christopher hatte dem Streit der beiden erst befremdet, zuletzt aber mit wachsendem Interesse zugehört. Daniel hatte versucht, sich umzubringen, weil ihm ein Reitunfall die Zeugungskraft genommen hatte? Grundgütiger, in was für ein Irrenhaus war er hier geraten!
Auras Gesicht war zu einer Maske der Wut erstarrt. Das Unverständnis ihres Vaters traf sie zutiefst. Aufgebracht rang sie nach Worten.
Nestor wartete nicht ab, was sie zu sagen hatte. Er machte einen Schritt auf Aura zu und starrte ihr fest in die Augen. Einen Moment lang sah es aus,
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