Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
zurechtzuweisen, ließ es dann aber bleiben. Falls sie Recht behielt und dies eine Falle war, konnte es nicht schaden, wenn zumindest einer von ihnen kampfbereit war.
Als sie den Torbogen erreichten, wichen sie zwei Schritte auseinander. Sie benötigten einen gewissen Radius, um ihre Schwerter zum Einsatz zu bringen. Alle Abläufe waren ihnen längst in Fleisch und Blut übergegangen, aus endlosen Übungen im Palazzo Lascari und unter der Sonne des Sinai.
Nachdem sie das Portal passiert hatten, sahen sie rechts eines der Hauptgebäude des ehemaligen Kastells. Eine schmale Außentreppe führte steil nach oben zu einer Tür. Der eigentliche Innenhof lag hinter dem Gebäude, eingefasst von weiteren Fassaden. Hier wucherte eine wilde Vegetation aus Palmen und tropischen Gewächsen, zu dicht, um die Mauern auf der anderen Seite erkennen zu können. Eine Hand voll Tauben stob aus dem Dickicht empor, als die Gestalt mit dem langen Mantel zwischen den Büschen auftauchte, Gillian und Karisma in Augenschein nahm und ihnen mit ruhigen Schritten entgegentrat.
»Guten Abend«, sagte der Mann. Er war alt und, soweit sie im Licht der einzigen Lampe am Fuß der Treppe erkennen konnten, ungewöhnlich braun gebrannt. Seine lederige Gesichtshaut war von einem Netz tiefer Falten durchzogen. Ein weißes Bärtchen, nicht breiter als ein Finger, reichte ihm von der Kinnspitze bis auf die Brust. Sein Mantel war grau, nicht schwarz, wie Gillian aus der Ferne angenommen hatte, und auf jeder seiner Schultern saß eine gurrende Taube mit geschlossenen Augen.
Sie blieben stehen. »Señor Escriva?«
Der alte Mann nickte. Die Tauben störten sich nicht daran.
»Sie haben mich gesucht.«
Karisma blickte sich argwöhnisch auf dem düsteren Innenhof um. Die Schatten der Palmen und Orangenbäume waren finster genug, um eine kleine Armee zu verbergen. Hin und wieder rasten flinke Schemen durch die Baumkronen, Fledermäuse, wie sie bei Nacht zu Tausenden unter den Dächern und Türmen der Stadt hervorkamen.
»Warum dieser Ort?«, fragte Karisma.
»Sie wollen mehr über die Templer auf der Insel erfahren«, sagte Escriva mit sanftem Stirnrunzeln. »Wäre Ihnen dazu ein besserer Platz eingefallen?«
Sie nickte. »Ein Tisch in einem hell erleuchteten Gasthaus.«
»Ah«, machte er leise, »kein Gefühl für Stimmungen. Kein, wie sagt man, Fingerspitzengefühl.« Gillian registrierte nicht ohne Misstrauen, dass Escriva Italienisch sprach. Das war einigermaßen verwunderlich. Karismas Muttersprache war Spanisch, daher war sie es gewesen, die sich in der Wirtschaft nach Escriva erkundigt hatte. Gillian dagegen sprach Deutsch, Italienisch und Latein. Woher aber wusste dies der alte Mann? Gillian war blond und sah nicht aus wie ein Südländer. Was also brachte Escriva dazu, sie auf Italienisch anzusprechen, in der einzigen Sprache, die sowohl er als auch Karisma verstanden? Nach kurzem Abwägen entschied er, den Mann danach zu fragen.
Escriva lächelte. »Sie kommen vom Templum Novum. Glauben Sie allen Ernstes, ich erkenne das nicht?«
Gillian spürte, wie sich Karismas Körper spannte. Ihre Rechte umfasste das obere Ende des Bündels.
»Lassen Sie das Schwert stecken, Schwester«, sagte Escriva.
»Ich habe nicht vor, mich mit Ihnen zu duellieren. Als ich zum letzten Mal eine solche Waffe geführt habe, waren Sie noch gar nicht geboren. Ich fürchte, mein Gespür für Hieb und Stich ist genauso eingerostet wie die meisten meiner Gelenke.«
»Sie sind Templer?«, fragte Gillian.
Der alte Mann nickte. »Bruder Narcisco.«
»Bruder Gillian. Und Schwester Karisma.«
»Das Schiff, das Sie hergebracht hat, kam nicht aus Venedig.«
»Nein.«
»Wohin hat es den alten Lascari verschlagen?«
Gillian dachte nicht im Traum daran, ihm das Versteck des Ordens zu verraten. »Lascari ist tot.«
Narciscos Stirn legte sich in hundert Falten. »Was ist geschehen?«
»Er war krank. Der Herr hat ihn zu sich gerufen.«
»Dann sind Sie sein Nachfolger?«
»Sagen Sie mir erst, woher Sie wissen, dass wir dem Templum Novum angehören.«
Bruder Narcisco stieß ein sprödes Lachen aus. »Das bereitet Ihnen Sorge, nicht wahr? Hätte ich mir denken können. Würde es in Ihr Bild von mir passen, wenn ich ein paar ominöse Andeutungen über Hellseherei mache?«
Gillians Blick blieb kühl. »Ich würde Sie für einen Lügner halten. Möglicherweise für einen Gegner.«
»Nun, um die Wahrheit zu sagen, was sonst sollte zwei junge Leu-te wie Sie dazu bringen,
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