Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Mitglieder des Ordens eine seltsame Faszination dabei, eine so altmodische Waffe wie das Schwert zu führen. Aber das konnte nicht alles sein. Wieder einmal wurde ihm bewusst, wie wenig er sie in Wahrheit kannte.
»Ein normales Leben«, wiederholte sie leise. Dann ruckte ihr Kopf plötzlich herum, und sie sah ihn durchdringend an. »Ich weiß nicht einmal, was das ist, Gillian. Das Leben im Haus meines Onkels hat sich nicht großartig vom Dasein in einem Kloster unterschieden. Und von dort aus bin ich gleich zu euch gekommen.«
»War das sein Wunsch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann wäre ich nicht mehr hier, glaub’ mir.«
»Aber er hat dich zu uns geschickt.«
»Geblieben bin ich aus anderen Gründen.« Sie wandte ihren Blick rasch wieder ab, bevor er versuchen konnte, die Wahrheit in ihren Augen zu lesen. Er wollte sie zurückhalten, aber sie hatten die Treppe im Fels schon erreicht. Es war jetzt nicht die Zeit, das Thema zu vertiefen.
Gras und niedrige Sträucher wucherten aus Spalten im Gestein. Die Kanten waren vom Wind und der salzigen Seeluft rund geschliffen, manche völlig zerbrochen, sodass man zwei, sogar drei Stufen auf einmal nehmen musste.
Die Treppe war nicht breiter als einen Meter; sie mussten hintereinander gehen. In scheinbarer Willkür schlängelte sie sich zwischen Felswänden und klobigen Formationen dahin. Weiter oben verschwand sie streckenweise unter Gräsern und ausgedorrten Bodendeckern.
Karisma ging voraus, weil Gillian den schweren Rucksack trug. Bald nahmen sie die erste Biegung. Das Rauschen der See blieb hinter ihnen zurück. Die Treppe führte jetzt durch eine enge Schlucht. Immer wieder blickte Gillian suchend nach oben, zu den Rändern der Felswände. Falls ihnen hier jemand auflauerte, würde er leichtes Spiel mit ihnen haben.
Dann aber ließen sie die Enge hinter sich, und die Stufen wanden sich wieder um mächtige Steinblöcke. Mit Ausnahme der Treppe gab es hier keine Anzeichen einer Bearbeitung des Gesteins. Die Templer von damals hatten zu viel Ehrfurcht vor dem Land gehabt, als dass sie sich daran vergriffen hätten. Sie hatten den Lauf der Treppe den natürlichen Gegebenheiten angepasst, auch wenn das bedeutete, dass jeder, der sie hinaufstieg, mühsame Umwege in Kauf nehmen musste.
Der Bootsmann hatte Karisma versichert, dass dies der einzige Zugang zur Höhle sei. Von der Landseite aus versperrten schroffe Steilwände den Weg. Auch war die Höhle nicht mit Pferden zu erreichen. Falls Narcisco Recht hatte und der legendäre Templerschatz in diesen Klippen aufbewahrt worden war, mussten Männer ihn auf ihren Schultern getragen haben.
Der Aufstieg nahm Gillian allmählich den Atem. Das mochte zum Problem werden, falls sie doch noch in eine Falle liefen.
»Hast du die Stufen gezählt?«
Karisma wischte sich fahrig Schweiß von der Stirn. »Ist das dein Ernst?«
»Das müssen über tausend sein.«
Sie presste ein leises Lachen hervor, das nicht verbergen konnte, wie erschöpft sie selbst war. »Du bist siebenundvierzig, siehst aber aus wie Mitte dreißig. Du sagst, das liegt daran, dass du vor zehn Jahren unsterblich geworden bist und seitdem nicht mehr alterst. Gut und schön. Aber hast du nun die Ausdauer eines Siebenunddreißig- oder eines Siebenundvierzigjährigen?«
»Im Augenblick fühl ich mich wie Siebenundsiebzig.«
»Sag Bescheid, wenn ich dich stützen soll.«
»Herzlichen Dank.«
Ein paar Minuten später erreichten sie ein kleines Plateau, etwa zehn Meter unterhalb der höchsten Klippen. Es war rundum von Felsen umgeben und hatte zwei Zugänge: Zum einen den Spalt, in den die Treppe mündete, zum anderen eine Stelle, an der sich der Felsenkranz auf einer Breite von drei Schritten senkte und zu einer benachbarten Wiese führte, die ebenso wie das Plateau von schroffen Felsspitzen begrenzt war.
»Ist das die Höhle?« Karisma deutete auf eine Öffnung auf der anderen Seite des Plateaus.
»Sieht so aus.«
Sie verzog das Gesicht. »Ein bisschen klein für ein Heiligtum.«
»Aber ein ideales Versteck für den Schatz.«
»Vorausgesetzt, er hat jemals existiert.«
»Und war hier auf der Insel.«
» Und Narcisco sagt die Wahrheit.«
Er lächelte. »Lassen wir uns davon abschrecken?«
»Nach diesem Gewaltmarsch?« Sie machte plötzlich einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ganz kurz nur, ganz zart, nicht mehr als ein Hauch.
Während er sie noch verwundert ansah, fragte sie
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