Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Hauptgebäudes zu. In seine hölzerne Bogenpforte war eine Tür eingelassen. Sie stand offen. Darüber thronte ein prachtvolles Rosettenfenster. Die zusammengesetzten Scheiben waren unversehrt, aber derart mit Staub überzogen, dass sie kaum noch als Glas zu erkennen waren.
Im Inneren des Gebäudes fand Aura eine Reihe leerer Kammern und Korridore, nichts, was darauf schließen ließ, dass dieser Ort in den letzten Jahrzehnten bewohnt gewesen war. Es gab keine zerfallenen Möbel oder mottenzerfressenen Vorhänge, keine alten Truhen oder Schränke. In einigen Räumen waren noch ein paar rostige Fackelhalter an den Wänden befestigt, in der Eingangshalle hing ein mächtiger Kronleuchter. Das war alles. Nicht einmal Ratten liefen ihr über den Weg.
Sie wollte wieder hinaus auf den Hof, als sie feststellte, dass sie sich verlaufen hatte. Der Revolvergriff in ihrer Hand fühlte sich klamm an, und sie fröstelte in den feuchtkalten Kammern und Fluren.
Sie unternahm gar nicht erst den Versuch, gleich wieder den Rückweg nach draußen zu suchen. Stattdessen ließ sie sich einfach von ihrer Neugier treiben, bog mal rechts, mal links ab, stieg schmale Stiegen hinauf und monumentale Steintreppen hinunter, kletterte in einen der Türme und auf den Wehrgang hinter den Zinnen.
Je länger sie im Schein der Laterne durch die Festung wanderte, desto ruhiger wurde sie. Dies war nichts weiter als ein altes, leeres Gemäuer, und sogar die Dunkelheit verlor in ihrem schieren Übermaß an Schrecken. Bald war sie überzeugt, dass sich kein anderes lebendes Wesen im Kastell befand, abgesehen von ein paar Fledermäusen und einer verwilderten Katze, die sie in den ehemaligen Stallungen aufscheuchte.
Irgendwann erreichte sie wieder den Hof. Dem bedrohlichen Blick der Fensterhöhlen hielt sie jetzt mühelos stand. Sie war enttäuscht. Während ihres ganzen Erkundungsgangs hatte sie nirgends Spuren eines Laboratoriums entdeckt. Und doch musste es irgendwo hier sein, Nestor hatte es sicher nicht komplett ausgeräumt. Auch Morgantus und Lysander hatten das Inventar gewiss nicht mitgenommen, als sie Jahre später hier gewesen waren.
Und ein anderer? Derjenige, der sie hergelockt hatte? Alles war möglich.
Im Zentrum des Hofs befand sich eine runde Pferdetränke mit gemauertem Rand, etwa vier Schritte im Durchmesser. Der Boden war trocken und staubig. Aura setzte sich auf die Ummauerung und blickte nach oben. Über dem Hof wölbte sich der Felsüberhang wie ein Dach. Selbst zur Mittagszeit musste es hier unten kühl und düster sein. Eine bedrückende Umgebung. Dagegen, fand Aura, war selbst das einsame Familienschloss an der Ostsee ein Hort der Heiterkeit und Lebensfreude.
Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Ein dunkler Umriss bewegte sich vor dem Spalt des Haupttors, dann schob sich der Kopf des Pferdes herein. Seine Ohren zuckten, und es stieß ein kurzes Wiehern aus.
Aura stand auf und ging zu dem Tier hinüber. Lächelnd liebkoste sie den riesigen Schädel und kraulte seine Mähne. »Dir gefällt’s hier auch nicht, hm?«
Das Pferd schnaubte, als wüsste es genau, was sie meinte. Sie bemerkte, dass seine Nüstern kalt und nass waren. Es musste Wasser gefunden haben, vermutlich eine Quelle in den Felsen.
»Guter Kerl«, flüsterte sie und war plötzlich froh, nicht allein zu sein. Das Tier strahlte Ruhe aus, genau das, was sie jetzt brauchte.
Sie zerrte an dem Torflügel, bis er weit genug nachgab, dass auch das Pferd problemlos durch den Spalt passte. Es trabte in den Innenhof, näherte sich der runden Tränke in seiner Mitte, starrte für einen Augenblick ins flackernde Licht der Petroleumlampe und blieb dann einfach stehen, vielleicht um zu schlafen.
Aura nahm ihr Essen und die Feldflasche aus der Satteltasche, dann stieg sie erneut die Treppe zum Wehrgang hinauf. Sie suchte sich eine Stelle über dem Tor und machte es sich mit angezogenen Knien zwischen den Zinnen bequem. Sie schnitt ein Stück von der Wurst ab und kaute darauf, ohne den Geschmack wahrzunehmen.
Das Weißbrot aus Andorra la Vella war hart geworden, aber auch das störte sie nicht. Sie wollte nur ihren Magen füllen. Dabei blickte sie über den öden Vorplatz hinweg zur Wiese und auf den überwältigenden Sternenhimmel darüber. Ab und zu flatterten Fledermäuse unter dem Rand des Felsüberhangs, kleine Splitter der Nacht, die die Finsternis mit einem Freudentanz feierten.
Nachdem Aura gegessen hatte, saß sie da und wartete. Schließlich nickte sie ein.
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