Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Selbst im Halbschlaf, teils wach, teils träumend, war sie auf der Hut.
Als sie die Augen wieder aufschlug, glaubte sie erst, das frühe Tageslicht habe sie geweckt, ein Kranz aus Morgenrot über den schartigen Buckeln der Berge.
Dann aber bemerkte sie die Bewegung vor sich in der Tiefe. Ihre Hand tastet nach dem Revolver. Dabei stieß ihr Daumen gegen das Brot. Es fiel lautlos in den Abgrund, aber sie schaute ihm nicht nach.
Ihr Blick war starr auf die Wiese gerichtet.
Ein Pferd trabte langsam dem Tor entgegen, nur ein Umriss vor dem Panorama der Morgenglut. Seine Zügel führten zu einer zweiten Silhouette, schwarz und schmal auf blutigem Rot.
Aura spannte den Hahn der Waffe. Das Geräusch wurde von den Felsen zurückgeworfen und hallte durch die Stille.
Der Scherenschnitt neben dem Pferd hob den Kopf. Er hatte sie längst entdeckt.
Das Pferd erreichte die Grasgrenze. Hufe klapperten auf nacktem Stein.
Aura glitt hinter den Zinnen hervor. Der Mann blickte auf und lächelte.
KAPITEL 15
Der Kiel des Ruderbootes scharrte über losen Kies. Gillian stand auf und wollte ins seichte Wasser springen, um das Boot vollends an Land zu ziehen, doch Karisma kam ihm zuvor. Die Wellen schlugen ihr bis an die Knie, und schnell war abzusehen, dass ihre Kraft nicht ausreichte. Sie quittierte Gillians breites Grinsen mit einer Grimasse, dann war er auch schon neben ihr in der Brandung und half ihr.
Wenig später standen sie auf dem Trockenen, auf einem schmalen Streifen aus Geröll und Kies, unterhalb majestätischer Klippen. Die weißen Felsen hatten sich im Licht der untergehenden Sonne orange gefärbt, ein Schauspiel, das beide innehalten ließ. Winzig klein stan-den sie am Fuß der Klippen, hinter sich die rauschende See. Etwa hundert Meter entfernt ankerte die Matador, das altersschwache Dampfschiff, das Bruder Narcisco ihnen im Hafen von Palma vermittelt hatte. Der Bootsführer war ein kleiner Mann in den Vierzigern, der nur Spanisch sprach. Es war Karisma überlassen geblieben, die Verhandlungen mit ihm zu führen. Jetzt stand er hinter der Reling und blickte seinen beiden Passagieren hinterher.
Narcisco selbst hatte sich bei der Abfahrt am Morgen nicht blicken lassen, doch der Bootsmann wusste, wohin er sie bringen sollte. Der alte Templer war schon im Morgengrauen am Hafen gewesen und hatte ihm alles Nötige erklärt.
Es gefiel Gillian nicht, sich auf Gedeih und Verderben in die Hände von Fremden begeben zu müssen. Aber ihm war klar, dass sie keine andere Wahl hatten. Und letztlich hätte er sich keine bessere Gefährtin als Karisma wünschen können, die ihm im Notfall den Rücken freihielt. In Tausenden von simulierten Gefechten, in stundenlangen Übungen in den Felsen rund um das Katharinenkloster und in den Hallen des Palazzo Lascari in Venedig waren sie zu einem eingespielten Duo geworden.
Nein, er machte sich keine ernsthaften Sorgen, auch wenn er auf der Hut war. Und er spürte, dass es Karisma genauso erging. Nach außen hin gab sie sich locker, war jetzt wieder ganz ihr kokettes, spielerisches Selbst. Innerlich aber wurde sie von einer Anspannung beherrscht, die er in ihren Augen sah und in der Art, wie sie das verhüllte Schwert trug.
»Da drüben, die Stufen!« Karisma deutete über den Kiesstrand zu einem Einschnitt zwischen zwei mannshohen Felsnadeln. Vage war dahinter der Beginn einer Treppe zu erkennen.
»Du hast gute Augen.«
Sie lachte. »Der Bootsmann hat’s mir gezeigt.«
»Warum dir und nicht mir?«
»Du sprichst kein Spanisch.«
Sie stolzierte vorneweg über den Strand. Er folgte ihr mit einem Lächeln. Der Kies knirschte, und kleine Muscheln zerbrachen unter seinen Füßen. Getrocknete Algen spannten sich wie braune Spinnweben über den Steinen.
»Hast du die Laternen dabei?«, rief Karisma über die Schulter.
Gillian deutete mit einem Nicken auf seinen Rucksack. »Was glaubst du, was ich hier spazieren trage? Deine Abendgarderobe?«
Er bemerkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, denn diesmal lächelte sie nicht. Rasch holte er auf und ging neben ihr.
»Wunder Punkt, hm?«
»Schon gut. Es ist nur… ich hatte nie Gelegenheit, ein Abendkleid zu tragen. Als Kind nicht, und später im Orden…«
»Niemand hält dich davon ab, ein ganz normales Leben zu führen.« Er hatte nie verstanden, was sie zum Templum Novum geführt hatte. Sie war leidlich religiös, gewiss, und in einer Zeit, in der die ersten Luftschiffe am Himmel zu sehen waren, verspürte auch sie wie alle
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