Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
bedeutet, eine eigenständige Entwicklung mit allen Fehlern, die dazugehören, und mit guten und schlechten Erfahrungen.«
»Dann haben Sie sich nie gewünscht, Ihr Kind wäre genau wie Sie selbst? Dass Sie es hätten formen können nach Ihrem Ermessen und, vor allem, Ihren Erfahrungen? Haben Sie nicht selbst
genug Fehler begangen, um sie ihm ersparen zu wollen? Wie grausam ist es, den eigenen Sohn ins offene Messer laufen zu lassen, nur um ihm vorzugaukeln, er könne alle Entscheidungen unbeeinflusst treffen und hätte sein Leben dadurch im Griff.«
Sie war bei ihm, bevor er auch nur eine Hand heben konnte. Ihr erster Schlag traf seine Brust und stieß ihn rückwärts zu Boden. Der zweite hätte ihm womöglich Schlimmeres angetan, aber sie zügelte sich. So wurde ihm nur für einen Moment die Luft geraubt, und während sie über ihm stehen blieb, rollte er sich auf die Seite, hustete und keuchte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Was zum Teufel wissen Sie über meinen Sohn?«, fuhr sie ihn an.
Severin hatte seine Brille verloren und tastete mit einer Hand danach, aber Aura beobachtete mit Genugtuung, dass er in der falschen Richtung suchte. »Ich ... wusste nicht mal, dass Sie einen Sohn haben ...«
»Sie haben von ihm gesprochen! Gerade eben!«
Seine Grimasse wurde zu einem spöttischen Lachen. »Ich habe von allen Söhnen gesprochen, von allen Töchtern. Aber wenn ich etwas gesagt haben sollte, das Sie derart aus der Fassung bringt, weil es die Wahrheit ist ... nun, dann tut mir das leid.«
Als sie ihm in den Magen trat, fühlte es sich an, als bohrte sich ihr Fuß in ein Bündel trockener Äste. Womöglich hatte sie eine Rippe erwischt. »Mein Sohn liegt im Sterben. Und ich will auf der Stelle hören, was Sie darüber wissen! Sie oder sonst jemand aus Ihrer Familie!«
Er heulte und lachte zugleich. »Sie meinen Sophia? Was sie darüber weiß? Warum fragen Sie sie nicht selbst, verdammt noch mal?«
»Weil ich keine Ahnung habe, wo sie steckt!« Aber hätte sie Sophia ebenso behandelt wie ihn? War es nicht viel einfacher,
Severin die Schuld zu geben? Von einem Augenblick zum nächsten verflog ihre Wut und an deren Stelle traten wieder die Angst um Gian und tiefe Schuldgefühle.
Als sie den Blick von dem Mann am Boden löste, stand Galathée über ihr auf der Galerie im ersten Stock, die Hand mit der festgenähten Puppe auf dem Geländer. Das lange Haar hing ihr in die Stirn und verbarg ihr Gesicht, nur das wächserne Kinn stach hervor.
»Ich ... ich ...« Und von überall aus der Passage erklang das Echo: »Ich ... ich ... ich ...«
»O nein!«, rief Severin aus und richtete sich schwankend auf. Sein Blick irrlichterte mit einem Ausdruck von Panik über die leeren, dunklen Fenster auf den Galerien.
»Ich ... ich ... ich«, wisperte es noch immer von allen Seiten.
»Das sind ihre Stimmen«, raunte Severin ihr zu. »Die Stimmen der Geburtlosen!« Die Fehlerhaften, Verkrüppelten und Unvollkommenen – so hatte er sie genannt.
»Ich ... ich ...«, flüsterte Galathee und abermals antwortete ihr der Widerhall.
»Gehen Sie!«, verlangte Severin von Aura und presste sich die Hände auf die Ohren. »Gehen Sie fort und kommen Sie nie wieder!« Aber seine Augen blickten nicht sie an, sondern suchten die verlassenen Galerien ab, als sähe er die Kreaturen dort oben vor sich, ohne Arme, ohne Beine, ohne Gesichter. Aber mit leisen Flüsterstimmen: Ich ... ich ... ich ...
»Die Dunkelheit«, sagte sie, »woher rührt sie? Was ist es, das dieses Haus so krank macht?«
Severin kicherte humorlos. »Das ist die Blindheit seines Architekten. Die Krankheit des Anatol Dolchow Er hat das Palais einst für die Octavians gebaut. Ein Unsterblicher wie Sie und Sophia. Sprechen Sie mit ihm, wenn Sie mehr darüber wissen wollen.«
»Und wo finde ich ihn, diesen Dolchow?«
Ich ... ich ... ich ...
»Überall, nur nicht hier im Haus.« Severin gestikulierte voller Ungeduld. »Sophia hat ihm verboten, zurückzukehren. Aber es ist nicht schwer, ihn aufzuspüren. Er hat geschworen, nie wieder ein anderes Gebäude zu betreten. Seit Jahrhunderten lebt er auf den Straßen von Prag, unter Brücken und Arkaden. Halten Sie Ausschau nach ihm. Fragen Sie nach dem Einäugigen mit dem Affen.«
Severin taumelte herum, als hätte ihm eine unsichtbare Hand einen Schlag versetzt, dann eilte er schwankend von Aura fort, tiefer in die Passage hinein, auf der Flucht vor dem Chor der Geburtlosen.
»Ich ...
Weitere Kostenlose Bücher