Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
ich ...«, sagte Galathee, doch als Aura zur Galerie emporblickte, war das Gliederkind verschwunden.
Sie eilte zurück zur Werkstatt, aber das Echo schien auch von dort zu kommen, und etwas in ihr sträubte sich, den Raum zu durchqueren. Stattdessen lief sie zur nächsten Treppe im Inneren der Passage, hinauf auf die Galerie im ersten Stock, und suchte nach dem Weg, den das Gliederkind genommen hatte.
Bald fand sie eine Eisentür, die sich nur von dieser Seite aus öffnen ließ, ein ehemaliger Notausgang. Sie trat hindurch, sah einen Korridor ohne Schattennester und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das trübe Licht aus der Passage folgte ihr. Als sie sich umwandte, sah sie oberhalb des Durchgangs ein halbrundes Fenster, zusammengesetzt aus Buntglasscherben.
Zwei Worte standen dort in schwarzen Lettern inmitten der Regenbogenfarben.
SAPERE AUDE.
Wage, weise zu sein.
Wie gelähmt starrte sie die gläserne Schrift an.
SAPERE AUDE. Gians Theorie. Das magische Siegel, das Wünsche erfüllt. Das Symbol in der Standuhr.
Gian hatte in allem recht gehabt, mit nur einer Ausnahme: Die Buchstaben, aus denen sich das Zeichen zusammensetzte, waren nicht S – P – q – R, sondern S – P – R – D. Die vier Konsonanten in diesen beiden Wörtern.
Das Wesen namens Sophia war in der Gnosis, im Glauben der Ophiten, die Verkörperung der Weisheit. Wage, weise zu sein bekam dadurch eine neue Bedeutung: Wage, wie Sophia zu sein!
Es war ein Wunsch, aber mehr noch eine Aufforderung. Genieße dein ewiges Leben! Verzweifle nicht an der Unsterblichkeit und deinem Ehrgeiz! Fühle dich frei und mit einem großen Geschenk gesegnet!
Aura ging mehrere Schritte rückwärts, dann warf sie sich herum und eilte den Korridor hinunter. Galathée war nirgends zu sehen. Die nächste Tür war nur angelehnt und führte auf einen Quergang. Er sah bewohnter aus als viele der anderen Flure, die sie in der letzten Stunde durchquert hatte. Es gab Lampen, saubere Teppiche, abgestaubte Bilderrahmen.
Vor ihr lag ein offener Durchgang. Sie war noch gut zehn Meter entfernt und erkannte ein Geländer. Wahrscheinlich war dort vorn die Eingangshalle, die Galerie im ersten Stock rund um das Foyer.
Doch ehe sie dort ankam, stürmte vor ihr jemand aus einer Korridormündung, versuchte sich zu orientieren, blickte erst in Richtung Geländer, dann zu Aura herüber.
»Gillian!«, entfuhr es ihr leise.
Mit einem erleichterten Lächeln kam er ihr entgegen und nahm sie in den Arm. Ein Schweißfilm stand auf seiner Stirn, sie konnte spüren, wie das Herz in seiner Brust vor Anstrengung hämmerte.
»Ich hab dich gesucht«, flüsterte er. »Ich glaube, ich bin durch jeden verdammten Gang in diesem Haus gelaufen, durch manche auch zweimal. Und ich hatte das Gefühl, dass sie immer ein wenig anders aussahen als vorher.«
Sie küsste ihn und sah ihm in die Augen. »Ich hab Severin gefunden. Da sind Dinge, über die er nicht spricht, aber ich glaube nicht, dass er etwas mit Lysander zu tun hat. Der Schlüssel zu allem bleibt Sophia.« Sie erzählte ihm von dem Schriftzug im Glas und dem magischen Siegel im Inneren der Standuhr. »Es gibt eine Verbindung zwischen meiner Familie und den Octavians.«
»Nestor«, bestätigte Gillian zu ihrer Überraschung. »Oben in der Ahnengalerie, in einem Nebenraum, steht seine Wachsfigur.«
Ihr Mund war auf einen Schlag staubtrocken. »Mein Vater?«
»Er sieht jünger aus, aber er ist es. Das Ganze wirkt wie ein Schrein. Als hätte er für jemanden hier eine ganz besondere Bedeutung gehabt.«
Aura lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Vater war ein Vorfahr der Octavians?«
»Das behauptet dieser Adam. Ich hab ihn und seine Schwester dort oben eingesperrt.«
Sie wollte etwas sagen, als aus dem Durchgang am Korridorende ein hohles Pochen ertönte. Jemand schlug von außen mit dem schweren Messingklopfer gegen die Haustür.
Sie tauschten einen Blick und liefen los. Vor ihnen öffnete sich die Eingangshalle mit ihren dunklen Holzoberflächen und Gerüchen von Politur und Bohnerwachs. Sie befanden sich genau gegenüber der Haustür, nur eine Etage höher. Unter ihnen hing an der Wand die Galionsfigur, aber weil sie ein Stück vom Geländer entfernt stehen blieben, konnten sie nur ihre ausgestreckten, verstümmelten Hände sehen.
Eilige Schritte näherten sich aus einem der Korridore im Erdgeschoss. Eine männliche Stimme murmelte etwas — Jakub. Ein metallischer Laut ertönte, als er den Hammer
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