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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vorwurf im Tonfall seines Sohnes. Aber Gian wirkte beinahe zu abgeklärt.
    »Ich muss zurück nach Venedig.«
    »Glaubst du wirklich«, fragte Gian und lehnte sich gegen die Fensterbank, »dass Rache dir helfen wird? Dass dadurch alles gut wird?«
    Gillian atmete tief ein. Kaffeeduft erfüllte jetzt das ganze Atelier. »Ich töte jemanden dafür«, sagte er ruhig. »Danach werde ich wissen, ob es geholfen hat.«

KAPITEL 24
    An ihrem zweiten Abend in Prag machte sich Aura auf den Weg zum Varieté Nadeltanz. Wie ihr Hotel lag es im Gassenlabyrinth der Kleinseite, nur einen Steinwurf vom Westufer der Moldau entfernt. In vielen Häusern wurde bereits geheizt, auf den Straßen roch es nach Kohlefeuern. Der Nachthimmel war grau marmoriert, eine Dunstglocke im Schein der Laternen.
    Der Eingang des Varietés befand sich in einem engen Innenhof, den sie durch einen düsteren Tortunnel betrat. Die beiden roten Türflügel standen weit offen, darüber prangte ein Schild mit dem goldenen Schriftzug Nadeltanz . Ein niedriger Gang, hell erleuchtet und mit Schaukästen an den Wänden, führte zu einer Doppeltür aus Milchglas mit feinem Schliff. In den Kästen hingen Plakate mit einer filigranen Frauengestalt in prachtvollen Kostümen. Sophia Luminique stand dort in verschlungenen Lettern und darunter: Freikörpertanz und Entfesslungskunst, Bauchrednerei und Kunstschießen , Fakirmagie, Blitzverwandlung, Pose Plastique und Mannsdressur .
    Die Abendkasse war in einer Nische zwischen den Schaukästen eingelassen. Auch hier verhinderte Milchglas, dass mehr als ein vager Umriss im Inneren der Kabine zu erkennen war. Schmale Frauenhände nahmen durch einen Spalt unter der Scheibe Auras Geld entgegen. »Die Vorstellung beginnt in zwanzig Minuten.«
    Hinter der Glastür öffnete sich ein Foyer mit Stuckdecke, roten Samttapeten, goldenen Statuen und zwei Treppen mit prachtvollen Geländern, die von zwei Seiten zu einer erhöhten Flügeltür führten. Zuschauer in Abendgarderobe bewegten sich
die Stufen hinauf, andere standen noch unten im Foyer auf dem blutroten Teppich, tranken Champagner oder Wein und unterhielten sich: reiche Ehepaare, aufgeregte Burschenschaftler, greise Sponsoren kichernder Modellmädchen.
    Aura gab ihren Mantel bei einem verhutzelten Alten an der Garderobe ab und stieg eine der Treppen hinauf. Sie fühlte sich beobachtet, aber als sie zurück ins Foyer blickte, entdeckte sie niemanden, der zu ihr hochsah. Ihr Missbehagen ließ trotzdem nicht nach.
    Mit einem tiefen Durchatmen betrat sie den Saal.
     
    In ihrer ersten Nacht in Prag, nach der Kutschfahrt mit Balthasar, hatte Aura schlecht geschlafen. Mehrmals war sie von wildem Vogelkreischen erwacht, als hätten sich aufgebrachte Schwärme vor ihrem Hotelfenster versammelt. Nachdem sie den ersten Schrecken abgeschüttelt hatte, war ihr klar geworden, dass die Vögel nur in ihren Träumen existierten. Vor dem Fenster herrschte die Stille eines nächtlichen Hinterhofs, auch auf dem Korridor regte sich nichts. Etwas von ihr schien noch immer auf der Route der Vögel unterwegs zu sein. Vielleicht war das der wahre Preis, den man für eine Fahrt mit Balthasar zahlte.
    In der Dämmerung war er mit ihr die Gassen der Kleinseite hinaufgefahren, durch das Tor des Hradschin zum Veitsdom im Herzen der ummauerten Schlossanlage. Im gotischen Mauerschmuck des Doms hatte er sie auf einen Greif und einen Phönix hingewiesen, Fabeltiere mit komplexer hermetischer Bedeutung.
    Vom Schloss aus kutschierte er sie zum Haus des Weißen Schwans, nicht weit entfernt an der Ecke Nerudova und Jánský vrsek. Der steinerne Schwan an der Fassade symbolisierte das Quecksilber, das sich im Athanor des Alchimisten von einem unreinen Element zu einem von größter Vollendung wandelte.

    Die beiden letzten Stationen der Route lagen weiter draußen im Westen Prags. Das Kloster Břevnov sahen sie nur von außen, und Balthasar beschrieb ihr ein Deckenfresko im Theresiensaal. Dargestellt war ein Heiliger, der sich darüber erzürnte, dass ihm während der Fastenzeit ein gerösteter Pfau serviert wurde; er erweckte den Vogel zum Leben und ließ ihn frei. Das Fresko zeigte das davonfliegende Tier, wobei der Künstler einen Flügel falsch herum an den Körper gemalt hatte  – der Legende nach als Vergeltung an den Mönchen, die sich geweigert hatten, ihm den vereinbarten Lohn zu zahlen. Balthasar hielt auch hierfür eine alchimistische Deutung bereit, doch Aura war in Gedanken längst woanders und nickte,

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