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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und Aura suchte vergeblich nach dem Projektor, der sie erschuf. Ehe überhaupt Zeit blieb, sich mehr als flüchtige Gedanken darüber zu machen, trat Sophia erneut auf, mal von den Seiten, mal aus dem Boden, gelegentlich gar aus dem Nichts.
    Aura ertappte sich dabei, dass sie die Umgebung mehr und mehr aus dem Blick verlor, sogar die Bühne selbst vergaß und mit ihr die Gewissheit, es mit einer einstudierten Darbietung zu
tun zu haben. Sophias Tanz mit den Schatten ließ alles Übrige in trister Gewöhnlichkeit versinken.
    Ihre Kostüme erinnerten an die Plakatmotive Alfons Muchas, Ikone einer Ästhetik, die Hohepriesterinnen und Heldinnen der klassischen Antike, mittelalterliche Kaiserinnen und moderne Gesellschaftsdamen zu ganz und gar überirdischen Wesen verschmolz. In der einen Minute trug Sophia Luminique wallende Gewänder und offene Roben, in der nächsten einen Traum aus Seide und wehenden Tüchern, bald darauf fast nichts mehr.
    Nach einer Weile erkannte Aura in den Kostümierungen eine Vielzahl mythologischer Motive: die dreifache Krone der Cybele; die Hörner der Astarte; das Dreigesicht Hekates; die Schleier der Isis und Minerva; das geheime Zwittergeschlecht der Venus.
    Eines aber änderte sich nie – das Haar der Unsterblichen war durchscheinend wie Kristall. Dabei floss und wogte es, als wäre es von einem irrwitzigen Eigenleben beseelt, und leuchtete silbrig von innen heraus.
    An diesem Abend gab es nichts zu sehen außer Tanz, keine der Attraktionen aus den Schaukästen. Das Programm zielte ganz auf eine Verführung ab, der nicht nur die Männer im Publikum erlagen.
    Als Sophia zuletzt alle Kleider abwarf und nackt auf der Bühne stand, entblößte sie neben ihrem grazilen Körperbau etwas, das zuvor nur zu erahnen gewesen war: eine Unzahl von Augen, die auf ihre Haut gemalt oder tätowiert worden waren. Sie starrten in vielen Größen und Farben von der Bühne ins Publikum, erwiderten die ungläubigen Blicke der Zuschauer, saßen wie Nester in Sophias Achselhöhlen, bedeckten die Innenseiten ihrer Schenkel und zogen sich in verschlungenen Mustern wie Perlenketten um ihre Hüften. Sophia trug Augen unter den Fußsohlen, Augen entlang ihrer Wirbelsäule, Augen auf den Schulterblättern. Selbst ihr Schoß wurde von Augen belagert.

    Übergangslos schossen Seidenbahnen von beiden Seiten der Bühne ins Licht, Sophia drehte sich in sie hinein und war bald von Kopf bis Fuß in breite Bandagen gewickelt. Noch während sie sich verbeugte und die kristallenen Locken nach vorne warf, schloss sich der Vorhang und der Saal explodierte in tobendem Applaus.
    Aura fühlte sich wie erschlagen von dem, was sie mitangesehen hatte. Noch einmal glitten die Vorhanghälften auseinander, offenbarten ein Spalier aus wogenden Schatten, durch das Sophia ins Licht und an den Bühnenrand trat. Sie war wieder nackt, aber jetzt ganz in Gold getaucht; jeder Fingerbreit ihrer Haut schien mit Blattgold überzogen. Sie verneigte sich, warf eine Kusshand über die Köpfe der Zuschauer und entschwand in einem Knäuel aus wirbelnden Schattenarmen.
    Abermals schloss sich der Vorhang. Die Kristallleuchter erstrahlten. Der Saal entflammte in Helligkeit.
    Aura hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Beginn der Aufführung wieder Luft holen zu können. Wie alle anderen starrte auch sie auf den Vorhang, als gäbe es Hoffnung, Sophia Luminique würde erneut erscheinen, um sich vom Publikum huldigen zu lassen.
    Schließlich aber wurden die ersten Kerzen auf den Tischen ausgeblasen und der angenehme Duft des Rauchs verbreitete sich im Saal. Die Türflügel wurden geöffnet und die Zuschauer strömten hinaus auf die Treppen, hinab ins Foyer und fort in die Nacht. Auch Aura erhob sich von ihrem Platz, zog die Tasche mit dem Revolver vom Stuhl und wollte den Männern und Frauen ins Freie folgen.
    Jemand drängte dem Menschenstrom entgegen. Es war der kleine alte Mann, der bei ihrer Ankunft an der Garderobe gestanden hatte. Schon von Weitem nickte er ihr zu. Als er sie erreichte, deutete er eine Verbeugung an und hielt ihr wortlos den Mantel entgegen.

    Obenauf lag ein gefalteter Zettel.
    Sie öffnete das Papier und musste es schräg gegen das Licht halten, denn die Botschaft war handgeschrieben, mit einer Tinte wie aus flüssigem Gold. Vielleicht auch mit Körperfarbe.
     
    Komm zu mir.
In Erwartung
S.

KAPITEL 25
    »Du hast es wirklich darauf angelegt, dass sich die Nachricht von deiner Ankunft in Prag wie ein Lauffeuer verbreitet«, sagte

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