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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ohne zuzuhören.
    Zuletzt brachte er sie zum königlichen Sommerpalast, einem Schloss mit sternförmigem Grundriss außerhalb der Stadt im Wald. Die Fahrt und Balthasars Erläuterungen hatten Aura erschöpft. Ungeachtet dessen berichtete er weitschweifig von einem Vogelrelief im Inneren des Schlosses, dem schönsten der ganzen Route; mit eigenen Augen durfte sie allerdings auch dieses Kunstwerk nicht betrachten.
    »Das war das letzte Haus der Vögel«, verkündete Balthasar, als sie zurück auf die Hauptstraße nach Osten bogen. »Und irgendwo weinen jetzt die Geister, weil wir sie einen weiteren Tag von der Stadt ferngehalten haben.«
    »Was geschieht, wenn kein Fahrgast am Pulverturm wartet? Oder jemand einsteigt, der ganz woanders hinwill?«
    Der Kutscher lächelte geheimnisvoll. »Irgendjemand will immer die Route befahren. Viele folgen dem Ruf der Vögel, ohne es zu wissen. Sie fahren vom Turm zur Karlsbrücke. Oder vom Dom zum Kloster Břevnov Sie glauben, sie machen einen Ausflug oder haben geschäftlich dort zu tun. Die Wahrheit ist, dass sie demselben Ruf gehorchen wie ich – nur ahnen sie es nicht. Sicher, ich könnte auch allein fahren, aber von irgendwas
muss unsereiner ja leben, stimmt’s? Die Stadt vor den Geistern zu schützen macht weder mich noch meine Pferde satt.«
    Der Rückweg zur Kleinseite war Aura endlos erschienen. Gegen Mitternacht hatte er sie vor dem Eingang des Hotels abgesetzt, zum Abschied mit dem Finger an die Mütze getippt und war ohne ein weiteres Wort davongeschaukelt.
    Am Ende der Gasse hatten die Laternen den Schatten des Gespanns noch einen Augenblick länger an eine Hauswand geworfen, dann war der Umriss verblasst wie einer von Balthasars Geistern.
     
    Der Saal des Varietés Nadeltanz war eindrucksvoller, als sie angesichts der versteckten Lage erwartet hatte. Auch hier herrschten Rot und Gold vor, zudem gab es große Spiegel an den Wänden, polierte Handläufe und Kristalllüster. Kleine Tische mit gepolsterten Stühlen verbreiteten die Atmosphäre eines Caféhauses; auf jedem standen ein Kerzenleuchter und ein schwerer Aschenbecher. Ein Drittel der Plätze war bereits belegt.
    Aura setzte sich allein an einen Tisch nahe der Bühne, ganz am Rand des Saals. Von hier aus hatte sie einen guten Überblick und saß zugleich mit dem Rücken zur Wand. Bis zu einer Tapetentür, vielleicht einem Notausgang, waren es nur wenige Schritte. Aura zog den zweiten Stuhl näher heran und legte ihre Tasche darauf; der Verschluss war nicht eingehakt, damit sie notfalls nach dem Revolver im Inneren greifen konnte.
    Ein dunkelroter Vorhang verbarg die Bühne. Aura aber interessierte sich mehr für die Logen an der Rückwand des Saals, geschmückt mit Gaze und Festons: Separees hinter kleinen Balkonen, die einst wohl für anschmiegsame Tänzerinnen und ihre Finanziers gedacht gewesen waren. Jetzt lagen alle im Dunkeln.
    Die Männer und Frauen an den Tischen waren in leise Gespräche vertieft, als das Licht der Kronleuchter erlosch. Eine
Fanfare ertönte und ließ alle verstummen. Lautlos teilte sich der Vorhang, die beiden Hälften verschwanden hinter Säulen aus falschem Marmor. Irgendwo hinter der Bühne spielte jemand Klavier. Drei oder vier weitere Instrumente fielen mit ein.
    Sophia Luminique trat ins Licht der Blendlaternen. Und Aura war nicht die Einzige im Saal, der sie den Atem raubte.
    Die Frau auf der Bühne war kleiner als Aura und ungeheuer feingliedrig. Auf den ersten Blick hätte man sie für eine Sechzehnjährige halten können; aber da war etwas in der Art, wie sie sich bewegte, in ihrem Gestus, dem aufreizenden Tanz, das keinen Augenblick lang Zweifel daran aufkommen ließ, dem Auftritt einer erfahrenen Künstlerin beizuwohnen.
    Aura hatte angenommen, nah genug an der Bühne zu sitzen, um jedes Detail zu erkennen, und doch gelang es ihr nicht, mehr als einen flüchtigen Eindruck vom Gesicht der Unsterblichen zu erhaschen. Die meiste Zeit über war Sophia Luminique in Bewegung, glitt mal wie eine Ballerina, dann wie ein Gespenst über die Bühne, und manchmal verschwand sie auf der einen Seite und tauchte im nächsten Augenblick auf der anderen wieder auf. Während der ersten Viertelstunde wechselte sie fünfmal ihr Kostüm, später fast im Minutentakt. Dennoch war die Bühne niemals leer, denn sobald die eigentliche Attraktion des Abends in den Kulissen verschwunden war, nahmen lebende Schatten ihren Platz ein. Mal erschienen sie als Silhouetten von Menschen, dann von Tieren,

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