Die Aldi-Welt
Leinentaschen (1 Mark) für Pfennigfuchser keine Alternative.
Bundespräsident Roman Herzog, immer öfter für etwas Grundsätzliches gut, hat seinem Volk geraten, sich in der »Tugend des Dienens« zu üben. Nebenbei: Nach der sogenannten Berliner Rede im Hotel Adlon im Frühsommer 1997, als Herzog wieder einmal einen »Ruck«, der durchs Land gehen müsse, forderte, dauerte es nicht lange und Herzog legte ein weiteres Mal nach: mit einem Bildungsbrikett, einer neuerlichen Ruck-Rede. Der Fernsehmoderator Friedrich Küppersbusch, dessen Sendung »Privatfernsehen« die ARD gerade mit einem Ruck den Hahn abgedreht hat, kalauerte, Herzog sei der Spezialist für »Kuschelruck« – es ist tatsächlich stets mit einem merkwürdigen Aroma versehen, daß Leute, zu höchstem Ansehen im Gemeinwesen gelangt, es nicht dabei belassen können. Eine Dosierungsfrage? Warum gerät ein hochgebildeter, solide in sich ruhender Altbaier wie Herzog plötzlich in den Predigertaumel und merkt nicht, daß ihm darüber die Rolle des elder statesman zur Nervensäge gerinnt? Um so bedauerlicher, da Herzog in den meisten seiner Einlassungen den richtigen Ton getroffen, die zentralen Themen dieser Jahre angesprochen hat. Wer wollte ihm widersprechen, wenn er behauptet, viel zu lange hätten sich die Bürger dieses Landes das Lotterleben einer Anspruchsgesellschaft geleistet? Daß freilich die Konsumgesellschaft ihre Kinder frißt, die nichts anderes kannten als Wirtschaftswundereltern, denen der Gedanke an Konsumverzicht artfremd war, ist ja auch eine nicht ganz neue Erkenntnis.
In bezug auf die Kassenfrau (männliche Kassierer sind so rar wie gute Brezen in Hamburg) bleibt festzuhalten, daß sie das Brennglas ist, in dem sich für einen Augenblick der Kunde in einen König verwandelt, bevor er einen überraschenden Tritt in den Hintern bekommt. Dabei spielt ein physikalisches Gesetz die Hauptrolle. Geschwindigkeit ist Weg mal Zeit. Der Weg, das ist das überlange Transportband, vier Meter sind neuerdings Standard, so lange Bänder gibt es sonst im Einzelhandel nicht. Angesichts der Warenmassen, die befördert werden, ist es gar nicht mehr vorstellbar, welchen Stau kurze Laufbänder verursachen würden. Zumal neben den Bändern sich noch die letzten Schnäppchen türmen: Markenpralinen, Sonnencremes, Schnittblumen, Videokassetten, CD-Mehrfachpacks. Farbbilderfilme. »Jeder Artikel muß auf das Band gelegt werden«, weist ein Schild unmißverständlich an, »Unsere Verkäufer sind gehalten, die Einkaufswagen zu kontrollieren.«
Am Rand der Bänder liegen auf einer Metallschiene jene orangefarbenen Vierkantplastikstäbe (ohne Aufdruck-Schnickschnack à la »Nächster Kunde«), die noch immer keinen offiziellen Namen haben – obwohl vor ein paar Jahren ein hochmögendes Institut zur Wahrung der deutschen Sprache einen Aufruf an die Bevölkerung ergehen ließ, Vorschläge für die Benennung einzureichen. Nennen wir dieses Ding ohne Namen »Trennriegel«. Ist der Kunde erst einmal in den Besitz eines solchen gelangt, beginnt die Zeit gegen ihn und für Aldi notabene für die Kassenfrau zu arbeiten. Ein Wettlauf setzt ein, der nicht zu gewinnen ist. Das liegt an dem genial einfachen System, das der ganzen Abrechnung zugrunde liegt. Eingetippt werden Nummern für bestimmte Preise, was den Vorgang beschleunigt. Die Kassenfrau muß die Schlüsselzahlen für das Sortiment einmal auswendig lernen, nie mehr vergessen – und mit ein paar täglichen Änderungen auffrischen. Die rechte Hand tippt blind, die linke schaufelt den Warenberg in den Einkaufswagen. Der Kunde braucht beide Hände, um bei diesem Umschichten mitzuhelfen; und jedesmal, wenn er noch beim Einsortieren ist (nicht alles kann mit lässiger Handbewegung vom Band gefegt werden), kommt die Stimme mit der Zahl. Nur eine Zahl. Sechsunddreißigneunundfünfzig. Kein Bitte, kein Danke (gilt nicht für Provinz-Aldis mit individuellerem Zuschnitt). Und eine ausgestreckte Handfläche wartet ungeduldig auf die Fütterung mit Scheinen. Kleingeldversuche nach dem Muster »Neunundfünfzig hätte ich« sind überflüssig:
Allein bis die Scheine den Weg aus der Börse gefunden haben, hat die Kassenfrau schon – im Tennis würde man sagen – antizipiert, was da kommen wird, und hält zusammen mit dem Kassenbon das Wechselgeld bereit.
Gerechtigkeit für Aldi
»Gerechtigkeit für Aldi-Kunden« wäre ein möglicher Titel für einen mäandrierenden Essay Peter Handkes, wenn der sich mit so
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