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Die Aldi-Welt

Die Aldi-Welt

Titel: Die Aldi-Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Hintermeier
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übertrieben, wenn man aus diesen Ergebnissen hochrechnet und Aldi als schichtenverbindendes, gesamtgesellschaftliches Phänomen begreift. Es ist, gelinde gesagt, irritierend, daß die Begeisterung, die in dem eingangs erwähnten Aldidente- Kochbuch geschildert wurde, sich von Jahr zu Jahr zu steigern scheint. Im Sommer 1997 ist eine Art Nachfolgeband für Kinder im Frankfurter Baumhaus-Verlag erschienen, Titel: Aldi Piccoli. Das erste Aldi-Kinder-Kochbuch.
    Das Buch schmiegt sich nicht nur in Aufmachung und Format schamlos eng an den Eichborn-Titel an, es spricht auch erstmals eine Zielgruppe an, die ernährungsphysiologisch bestimmt ganz hervorragend bei Aldi aufgehoben ist. »Fast alles in Aldi« steht auf der rechten unteren Ecke des Covers, das ein »Aldigator« ziert. Das Tier mit Rumpf aus Dosenblech schnippt einen Pfennig weg – und drinnen kommt es noch schlimmer: Das Kochbuch ist nämlich in Zusammenarbeit mit dem »Ersten Deutschen Aldi-Fan-Club« entstanden.
    Es scheint sich um einen neuen Typ von Homo supermercatus zu handeln. Sein Auftreten fällt konsumgeschichtlich in die mageren neunziger Jahre. Seinen mentalitätsgeschichtlichen Ritterschlag erhielt der Typ – zusammen mit der spezifischen Bezeichnung »Die Aldianer« – durch einen ebenso überschriebenen Artikel im Sommer 1996 im Zeitmagazin. »Was ist bloß bei Aldi los?« fragte der Vorspann, um sofort zur Diagnose zu kommen: »Der Laden ist plötzlich nicht mehr peinlich, sondern ein Muß.« Vor allem sind es, wie auf der folgenden Farbstrecke zu sehen ist, die Besserverdienenden, die hier entweder »die Nase voll vom Markenwahn« haben oder schlichterdings direkt in »die neue deutsche Bescheidenheit« steuern. Befragt vor und in Aldi-Filialen wurden neun Kunden. Folgende Berufe waren vertreten: Artdirector, leitende Angestellte, Dozent und Unternehmensberater, Architekt, Diplomingenieur, Manager, ehemalige Hotelbesitzerin, Uhrmachermeisterin und Bildredakteurin.
    Und was zieht nun die Besserverdienenden an? Die Preise, die Qualität, die Geschwindigkeit der Kassiererinnen, das überschaubare Angebot, das die Qual der Wahl erst gar nicht aufkommen läßt? Da kauft der Manager die Hemden bei Aldi, wegen der »sehr guten Qualität«; da versorgt sich die Hotelbesitzerin mit dem »herrlichen Champagner«; die Uhrmachermeisterin, weil es ihr Mann »kultig« findet, dort einzukaufen (und wegen der Babysachen); der Unternehmensberater wundert sich, »wie ich das schaffe, einen ganzen vollen Einkaufswagen mitzunehmen, ohne daß das mehr als hundert Mark kostet«. Wie er da so sitzt, auf dem oberen Regalbrett einer Aldi-Filiale, zwischen Kür-Cremeseife (1,99), Wasch-Emulsion Ombia-med (2,59) und dem Alio Fenstertuch (1,99), schwarz gewandet, darunter Jeanshemd und leuchtendblaue Socken, Bürstenhaarschnitt und skeptischer Blick auf die Welt – da ist er ganz Schmetterling mit Nadel im Leib, aufgespießt für alle Ewigkeit im Müll der Konsumgesellschaft. Aber, sagt er, »Luxus kann sinnvoll sein, wenn man ihn in echte Lebensfreude umsetzen kann, aber mein Toilettenpapier muß keinen Markennamen tragen.« Hier bietet sich die Vertiefung des Themas mit aller Vehemenz an: Was unterscheidet den Markentoilettenpapierkäufer vom Aldianer? Warum kaufen Millionen Hakle-dreilagig und/oder Hakle-feucht, während Abermillionen dieselbe Tätigkeit mit freudlosem, aufgerauhtem, grauem Schleifpapier verrichten? Müssen Lebensfreude und Toilettenpapier ausschließen, oder bedingen sie einander? Wo beginnt der Luxus, wo endet er?
    »Luxus ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht«, definiert der Nationalökonom Werner Sombart ungerührt in seiner 1912 erstmals erschienenen Schrift Liebe, Luxus und Kapitalismus. Freilich räumt er ein, daß man erst einmal zu definieren habe, was das Notwendige sei. Sombart spricht von der »Kulturnotdurft« beziehungsweise dem »Kulturnotwendigen«, das sich je nach Klima und Physiologie unterscheidet. Da beinahe alle unsere Gebrauchsgüter verfeinerte Güter sind (»denn fast alle befriedigen mehr als die (animalische) Notdurft«), ließe sich die Frage nach ein-, zwei- oder dreilagigem Toilettenpapier hier durchaus einreihen.
    Sombart leitet den Kapitalismus – im Gegensatz zu all den anderen Theorien über protestantische Ethik – aus dem Geist der illegitimen Liebe her. Als sich Liebe und Ehe trennten, trat die öffentlich zur Schau gestellte Geliebte auf den Plan. Diese Zurschaustellung erforderte die

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