Die Alptraum-Frau
Bennys Zimmer. Sie hörte nichts. Der Junge schlief noch. Nach der Morgentoilette wollte sie in sein Zimmer gehen und ihn wecken, wenn er dann noch schlafen sollte. Sie wollte ihm die Entscheidung überlassen, ob sie nun einkaufen gingen oder nicht.
Die Wohnung hatten Mutter und Sohn direkt nach der Scheidung angemietet. Es war natürlich ein Sturz nach unten gewesen, von einem Stadthaus in Chelsea in diese Gegend zu ziehen, aber Luxus war nicht alles. Auch in Paddington konnte man es aushalten.
Im Bad roch es immer nach Dunst, Seife oder Duschgel, weil kein anständiges Fenster vorhanden war. Es gab eines an der Wand dicht unter der Decke, aber es war kaum mehr als ein Spalt, der zudem nur gekippt werden konnte.
Eine Dusche, eine zu kleine Wanne. Handtücher, ein schmales Regalbrett, auf dem Janine ihre Kosmetika verteilt hatte und die Toilette. Natürlich auch der Spiegel über dem Waschbecken. In ihn schaute die Frau lieber nicht hinein.
Sie zog sich aus, streifte die Duschhaube über und genoss die Strahlen des heißen Wassers auf ihrem Körper, den sie streichelte. Dabei musste sie feststellen, dass sie sich noch immer sehen lassen konnte. Sie war nicht zu dick und auch nicht zu schlank. Wo der Körper fest sein sollte, da war er auch fest, und die Rundungen saßen an den richtigen Stellen, auch wenn sie sich manchmal darüber aufregte, dass ihre Brüste etwas zu schwer waren.
Aber dem Nachbarn von gegenüber gefiel es wohl. Schon einige Male hatte er versucht, sie ins Bett zu bekommen. Es war ihm noch nicht gelungen. Die Küsse und Berührungen sollten vorerst reichen, auch wenn sie spürte, dass ihr Widerstand immer stärker zusammenschmolz.
Schließlich war sie jung genug.
Nach dem Duschen trocknete sie sich ab, streifte den Bademantel über und ließ ihn auch an, als sie ins Schlafzimmer ging, um sich anzuziehen.
Eine schwarze Kordhose, ein dunkelroter Pullover mit V-Ausschnitt und ein dazu passendes Halstuch. So war sie mit ihrem Outfit zufrieden. Sie schminkte sich noch und fand, dass sie wesentlich besser aussah als vor einer halben Stunde.
Auch ihre Laune war gestiegen. Es ging ihr richtig gut. Sie freute sich darauf, mit Benny in die Stadt gehen zu können, trotz des miesen Wetters. Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es an der Zeit war, Benny aus dem Bett zu holen. Er sollte schließlich nicht den ganzen Vormittag verschlafen.
Sie ging durch den kleinen Flur auf sein Zimmer zu und wollte die Tür schon öffnen, als ihre Hand auf der Klinke bewegungslos liegen blieb, denn sie hatte etwas gehört. Eine Stimme - Bennys Stimme!
Halblaut. Durch das dünne Holz gut zu verstehen. Nur konnte sie nicht hören, was der Junge sagte. Sie hörte ihn aber leise lachen und dann den Begriff Daddy.
Er hatte immer ›Daddy‹ gesagt. Das fand er so toll. Weil auch in den TV-Serien die Kinder ihre Väter immer mit Daddy anredeten. Und eben mit Daddy konnte nur Ross gemeint sein.
Über Janines Rücken rann ein Schauer, der sich dann auch auf ihrem Gesicht verteilte. Sie konnte es nicht fassen und glaubte fest daran, dass Benny an irgendwelchen Einbildungen litt. Sein Vater war nicht zurückgekehrt. Er stand nicht im Zimmer und redete mit seinem Sohn, obwohl es sich so anhörte.
Janine Calderon hielt den Atem an und öffnete behutsam und so leise wie möglich die Tür. Benny sollte nichts merken, und er merkte tatsächlich nichts, denn er sprach weiter. Diesmal war es für Janine besser zu hören. Sie vernahm sogar sein leises Lachen und danach einen für sie schon entscheidenden Satz. »Ich finde es toll, dass du kommen willst, um mich zu holen. Ist es da cool, wo du bist?«
Die Frage war auch für Janine wichtig, denn sie rechnete damit, die andere Stimme zu hören. Es sprach auch jemand. So sehr sich die Frau anstrengte, sie konnte nichts verstehen. Dafür hörte sie wieder die Stimme ihres Sohnes. »Ja, toll, darauf freue ich mich.«
Janine hielt es nicht mehr länger aus. Es drängte sie, die Tür aufzustoßen und in das Zimmer hineinzuplatzen, um diese nicht begreifbare Idylle zu zerstören. Recht heftig stieß sie die Tür nach innen.
Sie zwinkerte, weil sie etwas Helles im Raum gesehen zu haben glaubte. Einen Schein oder einen Blitz, wie auch immer. Der aber jedoch sofort wieder verschwunden war.
Das Zimmer lag im Halbdunkel vor ihr. Sie schaute auf das Bett, in dem Benny nicht lag, sondern saß. Er blickte in eine bestimmte Richtung und suchte dabei die Gegend um sein Fußende ab. Seine Mutter
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