Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
»Bitte, Gertrud, fahren Sie fort.«
Nun, um es kurz zu machen: Gustaf legte eine glänzende Militärkarriere hin. Und damit nicht genug. Er ritt als Spion des Zaren nach China und zurück, er schoss Tiger, die so große Mäuler hatten, dass sie einen Menschen am Stück hinunterschlingen konnten, er traf den Dalai Lama und wurde Befehlshaber eines ganzen Regiments.
In der Liebe lief es nicht ganz so gut für ihn. Er heiratete eine schöne russisch-serbische Frau von Rang und Namen und bekam mit ihr eine Tochter und dann noch eine zweite. Kurz vor der Jahrhundertwende kam auch noch ein Sohn, aber offiziell hieß es, dass der Junge tot geboren war. Als Gustafs Frau dann zum Katholizismus konvertierte und fortging, um Nonne in England zu werden, verringerte sich die Chance auf weitere gemeinsame Kinder erheblich.
Um auf andere Gedanken zu kommen, brach der deprimierte Gustaf auf, um am Russisch-Japanischen Krieg teilzunehmen, wo er selbstverständlich Kriegsheld wurde und mit dem Russischen Orden des heiligen Georg für außerordentliche Tapferkeit vor dem Feind belohnt wurde.
Aber die Sache war die, wusste Gertrud zu berichten, dass der tot geborene Junge gar nicht tot geboren war. Das hatte die zukünftige Nonne dem ständig abwesenden Ehemann nur so eingeredet. Der Kleine war nach Helsingfors geschickt worden, wo er mit einem Namensschild am Handgelenk in einem finnischen Waisenhaus landete.
» Č edomir?«, sagte der neue Vater des Babys. »Quatsch! Tapio soll er heißen.«
Tapio Mannerheim alias Virtanen hatte nicht viel vom Heldenmut seines biologischen Vaters geerbt. Dafür brachte ihm sein Adoptivvater alles bei, was er konnte, und das war vor allem das Fälschen von Wechseln.
Bereits als Siebzehnjähriger war der junge Tapio fast schon ein Meister seines Fachs, aber als Vater und Adoptivsohn mehrere Jahre lang halb Helsingfors an der Nase herumgeführt hatten, merkten sie, dass der Nachname Virtanen inzwischen einschlägig bekannt und somit in ihrem Tätigkeitsbereich nicht mehr verwendbar war.
Tapio wusste zu diesem Zeitpunkt schon über seine edle Abkunft Bescheid, und so kam er selbst auf die Idee, dass er aus geschäftlichen Gründen wieder ein Mannerheim werden wollte. Die Geschäfte blühten wie nie zuvor, bis Gustaf Mannerheim eines Tages von seiner Asienreise zurückkehrte, wo er mit dem König von Nepal wilde Tiere gejagt hatte, und als Erstes erfahren musste, dass ein falscher Mannerheim die Bank betrogen hatte, deren Präsident er selbst war.
Zu guter Letzt wurde Tapios Ziehvater gefasst und eingesperrt, während Tapio über Åland ins schwedische Roslagen fliehen konnte. In Schweden nannte er sich wieder Virtanen, außer wenn er schwedische Wechsel unterschrieb, denn da hatte Mannerheim immer noch den besseren Klang.
Tapio heiratete in kurzen Abständen vier Frauen. Die ersten drei heirateten einen Grafen und ließen sich von einem Flegel scheiden, während die vierte von Anfang an um Tapio Virtanens wahre Natur wusste. Und die brachte ihn auch dazu, die Finger von den Wechseln zu lassen, bevor es ihm so ergehen konnte wie in Finnland.
Herr und Frau Virtanen kauften sich einen kleinen Hof, Sjölida, nördlich von Norrtälje, und investierten das auf kriminellem Wege erwirtschaftete Familienvermögen in drei Hektar Kartoffelacker, zwei Kühe und vierzig Hühner. Woraufhin Frau Virtanen schwanger wurde und 1927 ihre Tochter Gertrud zur Welt brachte.
Die Jahre gingen ins Land, es gab wieder Krieg, und Gustaf Mannerheim gelang mal wieder alles, was er anfing (außer der Liebe), er wurde wieder Kriegs- und Nationalheld, dann auch noch Marschall von Finnland und Präsident des Landes. Und Briefmarke in den USA . Und unterdessen bewirtschaftete sein unbekannter Sohn mit mäßigem Erfolg seine schwedischen Kartoffeläcker.
Gertrud wuchs heran und hatte ungefähr genauso viel Glück in der Liebe wie ihr Großvater. Als Achtzehnjährige fuhr sie zu einem Volksfest in Norrtälje und wurde von einem Tankstellengehilfen mit Branntwein und Orangeade traktiert, um sich anschließend hinter einem Rhododendronbusch von ihm schwängern zu lassen. Die Romantik war nach nicht einmal zwei Minuten vorbei.
Dann klopfte sich der Gehilfe die Erde von den Knien, erklärte, er müsse sich jetzt wirklich beeilen, wenn er den letzten Bus nach Hause erwischen wolle, und schloss mit einem »Also, vielleicht sieht man sich mal wieder.«
Wie es der Zufall wollte, sah man sich nie wieder. Aber neun Monate später
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