Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
gefangen und am Leben war als frei und tot.
Doch schon bald sollte sie auf der anderen Seite des Zauns und des Minenfelds stehen, meilenweit entfernt von den Wachen und ihren neuen Schäferhunden. Wenn es ihr gelang, von diesem streng überwachten Ort zu fliehen, würde sie auf einen Schlag eine der meistgesuchten Personen Südafrikas werden. Polizei, Sicherheitspolizei und Militär würden sie überall suchen. Außer in der Nationalbibliothek in Pretoria vielleicht. Und da wollte sie als allererstes hin.
Vorausgesetzt, die Flucht gelang.
Der Ingenieur hatte sie netterweise informiert, dass der Chauffeur, der zugleich den Safariguide abgab, ein Gewehr dabeihatte und angewiesen war, nicht nur aggressive Löwen zu erschießen, sondern im Fall des Falles auch flüchtende Putzfrauen. Aus Sicherheitsgründen hatte der Ingenieur vor, selbst eine Pistole im Halfter zu tragen. Eine Glock 17, neunmal neunzehn Millimeter mit siebzehn Patronen im Magazin. Nichts, womit man Elefanten oder Nashörner zur Strecke bringen könnte, aber fünfundfünfzig Kilo schwere Gehilfinnen durchaus.
»Dreiundfünfzig, wenn ich bitten darf«, sagte Nombeko.
Sie zog in Erwägung, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die Schublade im Büro des Ingenieurs aufzuschließen, in der er seine Pistole verwahrte, und die siebzehn Patronen herauszunehmen, ließ es aber bleiben. Wenn der Suffkopp wider Erwarten dahinterkam, würde er ihr die Schuld geben, und dann war die Flucht zu Ende, bevor sie auch nur angefangen hatte.
Stattdessen beschloss sie, den Ball flach zu halten und eine günstige Gelegenheit abzuwarten, sich dann aber mit höchstmöglicher Geschwindigkeit im Busch zu verdrücken. Ohne sich von Chauffeur oder Ingenieur in den Rücken schießen zu lassen. Und am besten auch, ohne sich unterwegs mit Tieren anzulegen, die zu erlegen der eigentliche Zweck einer Safari war.
Wann war also die Gelegenheit günstig? Am Vormittag nicht, denn da war der Chauffeur noch wachsam und der Ingenieur auch noch nüchtern genug, um etwas anderes zu schießen als sich selbst in den Fuß. Vielleicht ja direkt nach der Safari, kurz vor dem Abendessen, wenn van der Westhuizen schon einigermaßen angeschickert, aber auch nervös wegen des Treffens mit dem Präsidenten war? Und wenn der Chauffeur nach vielen Stunden Dienst fertig geguidet hatte.
Ja, dann war der richtige Zeitpunkt da. Nun galt es nur noch, diese Gelegenheit zu erkennen und beim Schopf zu packen.
* * * *
Die Safari konnte beginnen. Der Chinese hatte seinen eigenen Dolmetscher mitgebracht. Der Ausflug nahm jedoch den schlimmstmöglichen Anfang, als dieser Dolmetscher zum Pinkeln dummerweise ins hohe Gras ging. Noch dümmer war, dass er es in Sandalen tat.
»Hilfe, ich sterbe«, sagte er, als er einen Stich im linken großen Zeh spürte und einen Skorpion durchs Gras davonhuschen sah.
»Sie hätten nicht ohne ordentliches Schuhwerk in so hohes Gras gehen dürfen. Eigentlich überhaupt nicht, vor allem nicht, wenn der Wind weht«, erklärte Nombeko.
»Hilfe, ich sterbe«, wiederholte der Dolmetscher.
»Warum nicht, wenn der Wind weht?«, wollte der Ingenieur wissen, nicht aus Sorge um die Gesundheit des Dolmetschers, sondern aus reiner Neugier.
Nombeko erläuterte, dass die Insekten bei starkem Wind im Gras Schutz suchen, woraufhin die Skorpione aus ihren Löchern gekrochen kommen, um Beute zu machen. Und heute stand ihnen dabei ein großer Zeh im Wege.
»Hilfe, ich sterbe«, wiederholte der Übersetzer schon wieder.
Nombeko wurde klar, dass der wimmernde Dolmetscher wirklich glaubte, was er sagte.
»Nein, ich bin ganz sicher, dass Sie nicht sterben werden«, sagte sie. »Der Skorpion war klein, und Sie sind groß. Aber wir können Sie auch gern ins Krankenhaus schicken, damit die Wunde ordentlich versorgt wird. Ihr Zeh wird demnächst auf seine dreifache Größe anschwellen und sich blau verfärben, und dann wird er scheißwehtun, wenn Sie den Ausdruck verzeihen wollen. Dolmetschen werden Sie vorerst jedenfalls nicht können.«
»Hilfe, ich sterbe«, sagte der Dolmetscher zum vierten Mal.
»Langsam wünschte ich, Sie hätten recht«, sagte Nombeko. »Statt hier rumzufaseln, dass Sie sterben, wenn Sie gar nicht sterben müssen, sollten Sie positiv denken: Es war ein Skorpion, keine Kobra. Und jetzt haben Sie gelernt, dass man in Afrika nicht ungestraft in der Gegend herumpinkeln kann. Es gibt schließlich überall sanitäre Einrichtungen. Da, wo ich herkomme, sogar
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