Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Jahrzehnten politisch nicht mehr tragbar. Nein, das Problem war vielmehr die Frage, was an die Stelle dieses Systems treten sollte. Wenn man die Wahl hatte zwischen, sagen wir mal, Kommunismus und Apartheid, fiel die Entscheidung gar nicht mehr so leicht. Besser gesagt: Leicht war sie schon, nicht zuletzt für Reagan, der schon in seiner Zeit als Präsident der Schauspielergewerkschaft dafür gekämpft hatte, dass man keine Kommunisten nach Hollywood lassen sollte. Wie würde es aussehen, wenn er Milliarden und Abermilliarden von Dollars fürs Wettrüsten mit dem Sowjetkommunismus ausgab, gleichzeitig aber zuließ, dass eine Variante desselben in Südafrika ans Ruder kam? Außerdem hatten die Südafrikaner inzwischen Kernwaffen, diese Saftsäcke, auch wenn sie es abstritten.
Zu denen, die sich Thatchers und Reagans Rumgeeiere vor der Apartheidspolitik überhaupt nicht anschließen konnten, gehörten auch der schwedische Ministerpräsident Olof Palme und Libyens sozialistischer Führer Muammar al-Gaddafi. Palme tönte: »Die Apartheit kann nicht reformiert werden, die Apartheid muss eliminiert werden!« Wenig später wurde er selbst eliminiert, von einem Irren, der nicht ganz wusste, wo er war oder warum er tat, was er da tat. Oder von einer Person, auf die das genaue Gegenteil zutraf, das wurde nie so richtig ermittelt.
Gaddafi hingegen sollte sich noch viele Jahre bester Gesundheit erfreuen. Er ließ tonnenweise Waffen an die südafrikanische Widerstandsbewegung ANC liefern und brüstete sich lautstark mit dem hehren Kampf gegen das Regime der weißen Unterdrücker in Pretoria, während er selbst den Massenmörder Idi Amin in seinem Palast versteckte.
Ungefähr so lagen die Dinge, als die Welt wieder einmal zeigte, wie seltsam sie sein kann, wenn sie sich von dieser Seite zeigen will. Denn in den USA taten sich Demokraten und Republikaner zusammen und machten gemeinsame Sache mit Palme und Gaddafi und gegen ihren eigenen Präsidenten. Der Kongress drückte ein Gesetz durch, das jede Form von Handel und jede Art von Investitionen in Südafrika verbot. Es gab nicht mal mehr Direktflüge von Johannesburg in die USA . Wenn ein Pilot es trotzdem versuchte, hatte er die Wahl, entweder in der Luft umzudrehen oder sich abschießen zu lassen.
Thatcher und andere politische Führer in Europa und der Welt begriffen, woher der Wind wehte. Und da keiner im Lager der Verlierer stehen will, schlossen sich immer mehr Nationen den USA , Schweden und Libyen an.
Das Südafrika, wie man es kannte, bekam tiefe Risse.
Nombeko hatte aufgrund ihres Hausarrests in der Forschungsanlage nur begrenzte Möglichkeiten, die weltweiten Entwicklungen zu verfolgen. Ihre drei chinesischen Freundinnen wussten immer noch nicht viel mehr, als dass die Pyramiden in Ägypten standen, und das schon seit einer ganzen Weile. Vom Ingenieur bekam sie auch keine Hilfe. Seine Analysen begrenzten sich immer mehr auf hervorgeknurrte Kommentare wie:
»Jetzt haben diese Schwulen im amerikanischen Kongress also auch ein Embargo angezettelt.«
Außerdem konnte Nombeko ja nicht pausenlos im Wartezimmer mit dem Fernseher den mittlerweile schon dünn gescheuerten Boden schrubben.
Doch abgesehen von dem, was sie dennoch aus den Fernsehnachrichten aufschnappen konnte, hatte sie auch noch eine gute Beobachtungsgabe. Sie merkte, dass sich da draußen gewisse Dinge taten. Nicht zuletzt deswegen, weil es so aussah, als würde sich gar nichts mehr tun. Niemand rannte mehr über die Korridore, es kam auch kein Premierminister oder Präsident mehr zu Besuch. Dass der Alkoholkonsum des Ingenieurs von viel auf noch mehr angestiegen war, war ebenfalls ein Signal.
Nombeko befürchtete, dass der Ingenieur sich bald Vollzeit der Kognakflasche widmen und sich dabei in die Zeiten zurückträumen würde, als er seiner Umgebung noch weismachen konnte, dass er überhaupt von irgendwas eine Ahnung hatte. Und im Sessel daneben konnte dann ja der Präsident sitzen und sich in den Bart murmeln, dass die Schwarzen dran schuld waren, wenn dieses Land jetzt vor die Hunde ging. Was mit ihr passieren würde, wenn es dazu kommen sollte, verdrängte sie lieber.
»Ich frage mich, ob die Wirklichkeit nicht langsam die Gans und ihre Genossen einholt?«, sagte Nombeko eines Abends zu ihren drei chinesischen Freundinnen.
Und das in fließendem Wu-chinesischen Dialekt.
»Zeit wäre es«, antworteten die Chinesinnen.
In gar nicht mal so unebenen isiXhosa.
* * * *
Die Zeiten wurden immer
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