Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
der noch heruntergekommeneren Wohnung gegenüber einrichten. Und unterdessen ging das Leben weiter seinen unguten Gang.
Eines Tages musste er mit einer Lieferung zum Flüchtlingslager in Upplands Väsby, nördlich von Stockholm. Holger 2 fuhr aufs Gelände, parkte vor dem Lager des Heims, sah eine Schwarze, die offenbar ganz neu angekommen war, allein auf einer Bank sitzen, dachte sich weiter nichts dabei und begann, die bestellten Kissen hineinzutragen. Als er wieder herauskam, wurde er von der Frau angesprochen. Er gab ihr eine höfliche Antwort, woraufhin sie spontan ihrer Verwunderung darüber Ausdruck verlieh, dass es Männer wie ihn überhaupt gab.
Dieser Kommentar traf ihn mitten ins Herz, und er konnte sich seine Antwort nicht verkneifen, die da lautete:
» Das Problem ist, dass es mich ja gar nicht gibt .«
Wenn er gewusst hätte, was danach kam, wäre er vielleicht eher davongelaufen.
3. TEIL
Gegenwart: jener Teil der Ewigkeit, der die Domäne der Enttäuschung vom Reich der Hoffnung trennt.
Ambrose Bierce
9. KAPITEL
Von einer Begegnung, einer Verwechslung und einem unerwarteten Auftauchen
Nombeko hatte sich als südafrikanische Freiheitskämpferin ausgegeben, auf deren Kopf eine Prämie ausgesetzt war. Solche Leute mochte Schweden, und wie erwartet wurde sie sofort ins Land gelassen. Erster Halt: Flüchtlingslager Carlslund in Upplands Väsby, ein Stückchen nördlich von Stockholm.
Nun saß sie den vierten Tag in der Kälte auf einer Bank vor Gebäude Nummer 7, in eine braune Decke mit der Aufschrift »Einwanderungsbehörde« gewickelt, und dachte darüber nach, was sie mit dem Übermaß an Freiheit anfangen sollte, das sie sich von einem Tag auf den anderen verschafft hatte.
Mittlerweile hatte sie es auf sechsundzwanzig Jahre gebracht. Nette Menschen kennenzulernen, wäre sicher ganz schön. Normale Menschen. Oder zumindest einen normalen Menschen. Der ihr Schweden erklären konnte.
Und weiter? Tja, man konnte wohl davon ausgehen, dass es selbst in diesem Land eine Nationalbibliothek gab. Auch wenn die meisten Bücher in den Regalen wohl in einer Sprache abgefasst waren, die sie nicht verstand. Der normale Mensch, der ihr Schweden erklärte, musste ihr dann wohl auch noch Schwedisch beibringen.
Nombeko hatte schon immer am besten nachdenken können, wenn sie auf einem Stückchen Antilopen-Trockenfleisch herumkaute. So etwas hatte es in Pelindaba nicht gegeben. Was vielleicht erklärte, warum sie elf Jahre gebraucht hatte, um sich auszurechnen, wie sie da rauskam.
Vielleicht war das Antilopenfleisch inzwischen ja schon bei der israelischen Botschaft eingetroffen? Sollte sie sich dort überhaupt hintrauen? Warum eigentlich nicht? Das Tonband, mit dem sie gedroht hatte, erfüllte ja immer noch seinen Zweck, obwohl es zur Stunde genauso wenig existierte wie in der Woche zuvor.
In diesem Moment kam ein Lastwagen mit rotem Laderaum auf den Hof gefahren. Er fuhr rückwärts an ein Lagergebäude, und ein Mann in Nombekos Alter sprang heraus und fing an, Kissen in Plastikhüllen auszuladen und ins Lager zu tragen. Bis der Lkw leer war und er eine Unterschrift von der Frau erhalten hatte, die offenbar Chefin dieser Lagerhalle war. Eine Frau war hier die Chefin. Eine Weiße zwar, aber trotzdem.
Nombeko ging auf den Mann zu und sagte, dass sie ihn gerne etwas fragen würde. Aber es müsse auf Englisch sein, denn Schwedisch könne sie noch nicht. Es sei denn, der Herr sprach zufällig isiXhosa oder Wu-Chinesisch?
Der Mann sah Nombeko an und erwiderte, Englisch sei schon okay. Von den anderen Sprachen habe er noch nie gehört. Wie er ihr denn behilflich sein könne?
»Guten Tag überhaupt«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Ich heiße Holger.«
Verblüfft ergriff Nombeko seine Hand. Ein weißer Mann mit Manieren.
»Nombeko«, sagte Nombeko. »Ich komme aus Südafrika. Ich bin politischer Flüchtling.«
Holger drückte sein Bedauern über Nombekos Schicksal aus, hieß sie aber trotzdem herzlich willkommen in Schweden. Sie fror doch nicht etwa? Wenn sie wollte, könnte er im Lager gerne nach einer zweiten Decke für sie fragen?
Ob sie fror? Ob er ihr noch eine Decke holen sollte? Was war das denn? Hatte Nombeko am Ende schon den normalen Menschen getroffen, der ihr bis jetzt noch nie untergekommen war, wenige Sekunden, nachdem sie sich diesen Wunsch eingestanden hatte? Sie konnte sich ein paar anerkennende Worte nicht verkneifen.
»Unglaublich, dass es solche Männer doch gibt.«
Holger
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