Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Wrack zu entsorgen. Sie schleiften Holger an den Haaren und an einem Arm einmal quer über den Platz und die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter. Dort warfen sie ihn bei den Absperrungen vor dem Glashäuschen des Wächters auf den Boden und setzten gerade zu Misshandlung Nummer drei an – noch ein paar Tritte, kombiniert mit der Aufforderung, dass er zur U-Bahn kriechen und sich mit seiner hässlichen Fresse nicht mehr an der Oberfläche blicken lassen sollte.
»Vive la République«, rief der zerschlagene, aber tapfere Holger den Männern ein zweites Mal hinterher. Die murmelten nur »Scheißausländer« und zogen ab.
Holger blieb liegen, bis ihm ein Reporter von Sveriges Television auf die Füße half, der mit seinem Fotografen gekommen war, um einen Bericht über rechtsextreme Parteien im Aufwind zu machen.
Der Reporter fragte Holger, wer er war und welche Organisation er repräsentierte. Das völlig verstörte und verwirrte Opfer antwortete, er sei Holger Qvist aus Blackeberg und repräsentiere alle Bürger dieses Landes, die unter dem Joche der Monarchie stöhnten.
»Sie sind also Republikaner?«, fragte der Reporter.
»Vive la République«, sagte Holger zum dritten Mal innerhalb von vier Minuten.
Die junge Zornige hatte unterdessen ihr Geschäft erledigt, kam aus dem Kulturhaus und fand ihren Holger erst, als sie zum Menschenauflauf an der U-Bahn-Station ging. Sie drängelte sich durch die Menge, schubste den Reporter beiseite und zog ihren Freund in den Untergrund, um mit ihm den Pendelzug nach Gnesta zu besteigen.
Hier hätte die Geschichte ihr Ende nehmen können, wäre es dem Fotografen nicht gelungen, die Misshandlungen komplett auf Film zu bannen, gleich ab der ersten Attacke auf Holger, einschließlich des nutzlosen Bisses ins Plakat. Außerdem war es ihm genau im richtigen Moment gelungen, Holgers gequältes Gesicht heranzuzoomen, als er auf dem Boden lag und den zwei kerngesunden und langzeitkrankgeschriebenen Anhängern der Sverigedemokrater sein »Vive … la … République« nachflüsterte.
In der zusammengeschnittenen Fassung dauerte die Misshandlung zweiunddreißig Sekunden und wurde zusammen mit dem kurzen Interview noch am selben Abend in der Nachrichtensendung »Rapport« gesendet. Da die Dramaturgie dieser zweiunddreißig Sekunden absolut großartig war, konnte der Sender innerhalb von sechsundzwanzig Stunden die Ausstrahlungsrechte in dreiunddreißig Länder verkaufen. Und schon bald hatten über eine Milliarde Menschen auf der ganzen Welt gesehen, wie Holger 1 Prügel bezog.
* * * *
Am nächsten Morgen erwachte Holger davon, dass ihm der ganze Körper wehtat. Doch es schien nichts gebrochen zu sein, und so beschloss er, trotz allem zur Arbeit zu fahren. Am Vormittag waren nämlich zwei von den drei Hubschraubern für einen Auftrag gebucht, und das brachte immer eine ganze Menge Papierkram mit sich.
Er traf zehn Minuten nach offiziellem Beginn seiner Dienstzeit im Büro ein, wurde von seinem Chef sowie einem Piloten jedoch gleich wieder heimgeschickt.
»Ich hab dich gestern Abend im Fernsehen gesehen – wie kannst du nach der Dresche überhaupt aufrecht gehen? Ab nach Hause, mein Lieber, und ruh dich aus, nimm dir doch um Gottes willen frei«, sagte sein Chef und flog mit der einen Robinson 66 Richtung Karlstad.
»So wie du aussiehst, erschreckst du bloß die Leute zu Tode, du Wahnsinniger«, sagte der Pilot und flog mit der anderen Robinson 66 Richtung Göteborg.
Holger blieb allein mit der führerlosen Sikorsky 76 zurück.
Es fiel ihm überhaupt nicht ein, nach Hause zu fahren. Stattdessen hinkte er in die Küche, goss sich eine Tasse Kaffee ein und ging zurück in sein Büro. Er wusste nicht recht, was er von all dem halten sollte. Einerseits war er völlig zerknüppelt. Andererseits hatten die Bilder in »Rapport« eine enorme Durchschlagskraft gehabt! Vielleicht lösten sie ja eine republikanische Bewegung in ganz Europa aus?
Holger hatte gehört, dass so gut wie jeder Fernsehsender, der diesen Namen verdiente, gezeigt hatte, wie er Prügel bezog. Und was hatte er da für Prügel bezogen! Richtig gutes Fernsehen war das gewesen. Holger konnte nicht anders, er war stolz auf sich.
In diesem Augenblick betrat ein Mann das Büro. Unangemeldet.
Der Kunde sah Holger an, der sofort spürte, dass er mit diesem Mann und dieser Situation nichts zu schaffen haben wollte. Aber er konnte der Sache schlecht aus dem Weg gehen, und der Mann sah ihn so entschlossen an, dass Holger
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