Die Anatomie des Todes
für den Flachbildschirm an der Wand ging. Auch bedurfte es nur eines einzigen Knopfdrucks, um die Temperatur der FuÃbodenheizung zu regulieren. In die Bedienungsleiste war sogar ein Telefon integriert. Nicht dass sie es benutzen wollte â vielleicht allenfalls, um den Zimmerservice zu rufen â, denn mit den Flaschen in der Wanne, den Pillen in der Handtasche und Stigs Marlboro würde sie die Nacht glänzend allein überstehen. Sie setzte die Düsen des Whirlpools in Gang, und während der kräftige Wirbel ihren Körper massierte, schaukelten die Miniflaschen auf der Wasseroberfläche wie in Seenot geratene Schiffe. Sie öffnete die erstbeste, ohne auf das Etikett zu achten, und leerte sie in einem Zug. Eigentlich mochte sie keinen Rum, doch hier in der Schwerelosigkeit der Badewanne waren solche Bagatellen ohne Bedeutung. Hier trank man, was
gerade vorbeitrieb, und war dankbar dafür, seinen alternden Körper nicht mehr zu spüren.
Auf dem Flachbildschirm lief ein Film über Kaiserpinguine. Neben dem Norwegischen Staatsfernsehen NRK1 war dies der einzige empfangbare Sender. Hinzu kamen drei Pay-TV-Kanäle, deren Bildqualität aber zu wünschen übrig lieÃ. Offenbar kannten die technischen Möglichkeiten selbst im Scan Inn gewisse Grenzen. Sie verlor rasch das Interesse an den Pinguinen und kehrte zu ihrer derzeitigen Lage zurück: Was konnte sie jetzt tun?
Stig hatte sicherlich recht, dass Erik Skarv und die übrigen Beteiligten noch enger zusammenrücken und mit allen Mitteln versuchen würden, ihre Geheimnisse zu wahren. Falls Skarv seine Grundstückskäufe über Strohmänner abgewickelt hatte, würde er sicher auch Handlanger für kommende Transaktionen finden. Vielleicht sollte sie versuchen, mit überregionalen Nachrichtensendern in Kontakt zu treten. Würde sich irgendjemand auÃerhalb der Stadt für diese Story interessieren? Und würden alle genauso skeptisch sein wie Stig und eindeutige Beweise fordern? Wollten sie alle Skarvs Kopf auf dem Silbertablett serviert bekommen?
Aber wenn sich weder die Behörden noch die Presse einspannen lieÃen, was blieb ihr dann noch?
Es war schon spät in der Nacht, sie hatte das lauwarme Wasser ausgetauscht und den säuerlichen Rotwein mit Schraubverschluss in Angriff genommen, als sich langsam eine Lösung abzeichnete. Eigentlich war sie ganz naheliegend. Die Menschen, von denen sie sich Informationen erhoffte, waren im Grunde doch diejenigen, die sie tagtäglich behandelte, ihre Patienten und deren Angehörige. Sie musste nur die Kommunikationsrichtung ändern. Sie durfte sich nicht länger nach Skarv erkundigen, sondern musste ihre Patienten selbst mit Informationen versorgen, musste selbst den Sturm entfachen, der die Stadt heimsuchen
würde. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie schnell sich Gerüchte verbreiteten. Warum sollte sie sich dies nicht zunutze machen? Alle sollten von Jos Tod erfahren, von den Ferienhäusern und dem riesigen Baugrundstück, von Skarv und dem Bürgermeister. Das würde weitläufige Diskussionen mit Ehepartnern, Kollegen und Nachbarn nach sich ziehen. Und je drängender die Fragen wurden, desto mehr würde man Antworten einfordern. Es konnte als beiläufiges Flüstern beginnen, als harmloser Leserbrief. Mit der Zeit würden professionellere Spürnasen â die Journalisten â sich auf dieselbe Fährte setzen. Und auch die Opposition im Rathaus würde irgendwann erkennen, dass sie sich profilieren konnte, wenn sie Antworten einforderte â offizielle Antworten, die unter Eid abgegeben wurden. Schon morgen konnte sie eine Lawine in Gang setzen, die irgendwann die ganze Stadt unter sich begraben könnte. Hier, in der Suite 812, fühlte sich Maja wie eine Revolutionärin. Die Jeanne dâArc aus dem Scan Inn. Dies war die Festung, von der aus sie ihre Truppen in den Kampf schickte. Und wenn die Schlacht siegreich geschlagen war, würden sie in der verheerten Stadt ein Monument errichten. Einen Gedenkstein aus weiÃem Marmor, der den Namen des ersten Gefallenen, Jo Lilleengen, trug. Was für ein berauschender Gedanke! Ebenso berauschend wie die geleerte Minibar, deren Reste zu den Lauten der Pinguine in der Badewanne vor sich hin dümpelten.
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»Der Teufel ruft immer in der Nacht an«, hatten sie in der Notaufnahme gesagt. In neun von zehn Fällen war dies der Fall.
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