Die Anatomie des Todes
fort.
Als sie fast zwanzig Minuten gefahren waren, hielt Stig plötzlich am StraÃenrand an. Es war ein groÃartiger und zugleich furchteinflöÃender Anblick, der sich ihnen bot. So weit das Auge reichte, sahen sie die schroffen, schwarzen Klippen, die sich senkrecht aus dem schäumenden Meer erhoben, dessen Wellen tosend gegen die Felsen schlugen.
»Komm!«, sagte er.
Sie stiegen aus und betraten einen schmalen Pfad, der mitten zwischen die steilen Felsen führte. Ein heftiger Wind schlug ihnen entgegen, und Maja konnte das Salz schmecken, das in der Luft lag. Sie hatte keine Ahnung, wo er sie hinführen wollte oder was er mit ihrem Ausflug bezweckte. Trotzdem stapfte sie folgsam hinter ihm her, bis sie die äuÃerste Kante der Steilküste erreicht hatten.
»Was wollen wir hier, Stig?«
Er antwortete nicht, sondern blickte stumm über das Meer, als sammele er Mut für sein Vorhaben.
»Warum hast du mich hierher mitgenommen?«
Stig sah ihr in die Augen.
»Dreh dich um!«
Sie zögerte. Vor allem, weil sie so nah am Abgrund stand, aber auch, weil sie nicht wusste, was sie erwartete. Sie schloss die Augen und fuhr auf dem Absatz herum. Er packte
sie an beiden Schultern. Sie spürte die Kraft seiner Hände und den peitschenden Wind in ihrem Gesicht.
»Siehst du sie?«, fragte er.
Sie öffnete vorsichtig die Augen. Die heftigen Böen trieben ihr Tränen in die Augen, doch jenseits des Tränenschleiers erkannte sie plötzlich eine massive Säule aus hellem Marmor, die ein Stück weit entfernt stand.
»Was ist das?«
»Vor neunzehn Jahren ist die Passagierfähre Viben hier bei dichtem Nebel auf Grund gelaufen. Es waren achtundsiebzig Menschen an Bord. Vierundsechzig davon kamen aus der Stadt. Ein Drittel waren Kinder. Niemand wurde gerettet. Alle sind ertrunken.«
Maja lehnte sich mit dem Rücken an ihn.
»Warum erzählst du mir das?«
Er antwortete nicht. Stattdessen erzählte er ihr davon, wie die ganze Stadt nach dem Unglück zusammengerückt war und das Leid mit den Angehörigen geteilt hätte. Als der Trauergottesdienst stattfand, sei der gesamte Platz vor dem Rathaus mit trauernden Menschen überfüllt gewesen. Für die Hinterbliebenen sei gesammelt worden.
»So stark ist das Gemeinschaftsgefühl bei uns. Alle fühlen sich dem Wohl der Stadt verpflichtet, auch wenn es mal zu Meinungsverschiedenheiten kommt. Wir sind eine groÃe Familie, ob uns das nun gefällt oder nicht.«
Maja drehte sich zu ihm um.
»Wenn das wirklich so ist, kannst du mir dann erklären, warum bei Jo Lilleengens Begräbnis nur seine Mutter und ich anwesend waren?«
»Ich sage ja nicht, dass alles perfekt ist. Deswegen bin ich doch Journalist geworden, Herrgott! Weil auch ich wissen will, was da im Heringsviertel vor sich geht, aber â¦Â«
Stig zögerte und lieà den Blick wieder über das Meer schweifen.
»Aber was?«
»Aber du löst keine Probleme, wenn du dich so verhältst. Im Gegenteil.«
»Sie beginnen mich zu fürchten.«
»Sicher, aber was ist damit gewonnen? Siehst du denn nicht, dass du ein einziges Chaos anrichtest? Dass du mehr kaputt machst, als du Positives bewirken kannst?«
»So siehst du mich also?«
»Was kannst du auf diese Art denn erreichen?«
Als Maja nicht antwortete, fuhr Stig fort:
»Okay, Erik Skarv hat wahrscheinlich ein bisschen getrickst, damit er sich jetzt ein Hotel oder eine Milchfabrik oder weià der Teufel was bauen kann, was sollâs?«
»Ich dachte, auch du wärst an der Wahrheit interessiert.«
Stig schüttelte den Kopf. Mehr aus Ohnmacht als aus anderen Gründen.
»Welche Wahrheit? Die Wahrheit worüber, Maja?«
»Die Wahrheit, warum Jo Lilleengen sterben musste.«
»Weil er ein verdammter Junkie war, der von dem Zeug nicht losgekommen ist, so einfach ist das!«
»Und Kvam? Warum musste er dran glauben?«
»Weil er sich über irgendeinen Scheià mit Rolf Vikse in die Haare gekriegt hat, verdammt! Der hat doch schon gestanden!«
»Und Munkejord â¦Â«
»Ist wahrscheinlich stockbesoffen in den Fluss gefallen, wie das Dutzenden meiner Landsleute jedes Jahr passiert!«
Tränen liefen ihr über die Wangen, aber der Wind konnte nichts dafür.
»Und was ist mit den Leuten, die mich verfolgen?«
Er streichelte ihren Arm. Suchte nach ihrer Hand und
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