Die Anatomie des Todes
fünfzehn bis zwanzig Schülern nicht identifizieren. Auf dem nächsten Foto war ein pickliger Teenager zu sehen. Sie erkannte Jo von den Bildern in der Zeitung und aus ihrer schwachen Erinnerung an die Notaufnahme. Ein anderes Foto zeigte ihn gemeinsam mit ein paar anderen Jungs beim Ãben. Offenbar war er Mitglied einer Band gewesen. Auf der groÃen Trommel stand »The Rats«. SchlieÃlich entdeckte sie sogar ein Säuglingsfoto von Jo Lilleengen. Es hatte ganz unten gelegen und war ziemlich durchgeweicht. Die Oberfläche war rotbraun verfärbt und hatte sich teilweise gelöst. Das Foto war teils anziehend, teils abstoÃend. Wie eines der Babyporträts von Kurt Trampedach. Sie legte die Fotos aufeinander und steckte sie in die Tasche.
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Am Donnerstag kam Reidar pünktlich zum verabredeten Termin. »Ach, du ScheiÃe!«, rief er, als sie ihm die Frage beantwortet hatte, wem sie die Wunde auf der Stirn verdankte.
»Wollten sich bestimmt ein bisschen Dope besorgen«, fügte er hinzu.
Maja nickte. »Sie haben nichts gehört?«
»Was gehört?«
»Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Natürlich, wer den Einbruch verübt hat.«
Reidar schüttelte energisch den Kopf. »Keine Ahnung, ehrlich!«
Sie sah ihm weiter in die Augen. »Es hat also nicht zufällig jemand damit angegeben, ins Ãrztehaus eingestiegen zu sein?«
»Dann würde ich es Ihnen erzählen.«
Maja lehnte sich zurück und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Sie würden mir das wirklich erzählen? Warum eigentlich?«
»Weil man keine Frauen schlägt.«
Entweder war er ein auÃergewöhnlich guter Schauspieler, oder ihm war wirklich nichts zu Ohren gekommen.
»Okay. Wenn Sie doch noch was hören, können Sie ja jederzeit bei mir vorbeischauen.«
»Klar, mach ich. Krieg ich jetzt das Rezept?«
»Geht es Ihnen denn kein bisschen besser seit dem letzten Mal?«
Reidar schaute sie verblüfft an. »Nicht die Spur. Ich bin immer noch total fertig!«
»Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie sich mit der Jugendpsychiatrie in Verbindung setzten. Wenn Sie wollen, kann ich gerne für Sie anrufen.«
»Ach, lieber nicht. Das Rezept genügt schon.«
Maja schrieb es aus und streckte ihm den Zettel entgegen. Als er ihn ergriff, hielt sie ihn fest und sah ihn durchdringend an. »Wir müssen bald eine andere Lösung finden.«
»Ja, ja«, entgegnete Reidar und riss den Zettel an sich. Im nächsten Moment war er aus der Tür.
Maja seufzte.
Vielleicht würde es ihrem Nachfolger gelingen, dass Reidar sich eines Besseren besann. Vielleicht waren dazu aber auch ganz andere Dinge notwendig.
Ein Brief aus Stavanger bestätigte, dass sie dort eine Stellvertretung
beginnen könne. Sie musste nur noch telefonisch zusagen, dann hatte sie den Job. Bei der Geschwindigkeit, mit der sie derzeit ihre Jobs wechselte, würde sie an Weihnachten schon am Nordpol sein.
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Als Maja in das überfüllte Wartezimmer kam, erblickte sie Kommissar Blindheim. Er lehnte an der Wand und sah genauso pflegebedürftig aus wie der Ficus Benjamin in seinem Topf. Sie fragte sich, ob er in seiner Eigenschaft als Kommissar oder als Patient gekommen war.
»Gibt es Neues über den Einbruch?«, fragte sie lächelnd.
»Leider nicht.«
»Und die Fingerabdrücke?«
»Passen zu keinen, die wir schon kennen.«
Maja breitete bedauernd die Hände aus. »Haben Sie sich schon die Akte von Lilleengen angesehen, die ich Ihnen gefaxt habe?«
Blindheims Blick ging unruhig hin und her. »Hab ich, danke für die Hilfe.«
»Haben Sie bemerkt, dass er offenbar clean war?«
»Ich habe zur Kenntnis genommen, dass er nicht mehr in Behandlung war, aber clean?« Er schüttelte den Kopf. »Die Todesursache spricht dagegen.«
»Warum sollte man sich bei einem Rückfall ausgerechnet für Methadon entscheiden? Da würde man doch lieber etwas nehmen, das einem einen richtigen Kick garantiert.«
Blindheim seufzte. »Damit kenne ich mich nicht aus. Dafür habe ich aber oft die Erfahrung gemacht, dass die Leute alles nehmen, was sie in die Finger kriegen.«
»Ach wirklich?« Maja machte sich nichts aus solchen Verallgemeinerungen.
»Hallo, Arne, wollen wir?«
Milten stand mit Blindheims Patientenakte am Empfang und breitete einladend die Arme aus.
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