Die Anatomie des Todes
Der Bericht war nahezu identisch mit demjenigen, den sie im Fitnessstudio gesehen hatte. AuÃer der viel diskutierten Drogenkriminalität schien sich in der Stadt nicht sonderlich viel zu ereignen. Als der Tod eines gewissen Jo Lilleengen zur Sprache kam, war sie ganz Ohr.
»Wir haben diesen tragischen Fall gerade abschlieÃen können«, äuÃerte Blindheim. »Der Obduktionsbericht bestätigt die Annahme, dass es sich um eine Ãberdosis Methadon gehandelt hat.«
Sie schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung aufs Sofa. Der Kommissar schien ihrem Anruf keine Beachtung geschenkt zu haben. Dass die Todesursache eine Ãberdosis Methadon gewesen war, durfte niemand überraschen. Doch war der Fernsehbericht mit keinem Wort auf die Frage eingegangen, was Lilleengen dazu gebracht hatte, Methadon zu nehmen.
Am liebsten hätte sie den Kommissar gleich noch mal angerufen. Fühlte sich die Polizei für solche Fragen nicht zuständig? Als hätte Blindheim ihre Gedanken gelesen, meldete sich in diesem Moment ihr Handy. Doch war es nicht die Nummer des Kommissars, die auf dem Display erschien. Der Anruf kam aus Dänemark, und diesmal konnte sie sich ihm nicht entziehen.
»Wobistugewesen?« Die Anruferin klang wie ein Taucher, der soeben an die Oberfläche kommt und nach Luft schnappt.
»Hast du denn meine Mail nicht bekommen?« Das war
die beste Ausrede, die ihr auf die Schnelle einfiel. Sie wusste nur zu gut, dass der Computer zu Hause für ihre Mutter immer noch ein Rätsel war und nur von ihrem neuen Mann Poul benutzt wurde.
»Du weiÃt genau, dass ich nicht ins Internet gehe. Ich habe ständig versucht, bei dir anzurufen. Warum gehst du nicht ran?«
»Ich hatte so viel zu tun«, antwortete sie automatisch. »AuÃerdem kann ich oft nicht rangehen, wenn ich in der Notaufnahme bin.«
»Was machst du auch nur so weit da oben!«, seufzte ihre Mutter.
Das fragte Maja sich auch. Aber das wäre keine Antwort gewesen, die sie ihrer Mutter geben konnte. Ebenso wenig konnte sie ihr von ihrer ärmlichen Behausung erzählen, von den Todesfällen in der Notaufnahme, von dem Ãberfall, der ihr eine Platzwunde und acht Stiche auf der Stirn eingebracht hatte, und davon, dass sie sich auf dem McDonaldâs-Parkplatz übergeben hatte.
All das waren Dinge, mit denen man eine Mutter aus Birkerød nicht konfrontieren durfte. Vor allem, damit sie keinen Nervenzusammenbruch bekam, aber auch, weil ihre Mutter niemals, niemals, auf ihre Ermahnungen verzichtet hätte.
»Du hättest bei Dr. Skouboe nur noch ein knappes halbes Jahr arbeiten müssen, dann hättest du deine eigene Praxis eröffnen können«, begann sie.
»Ich hatte trotzdem keine Lust mehr.«
»Aber machst du jetzt nicht genau dieselbe Arbeit da oben?«
Majas Migräne machte sich wieder bemerkbar.
»Ich will jetzt nicht darüber reden.«
Ihre Mutter wollte dies umso mehr. »Ausgerechnet Norwegen! Na, zumindest bin ich froh, dass du dir nicht irgendein
Entwicklungsland ausgesucht hast, um die Märtyrerin zu spielen.«
»Märtyrerin?«
»Oder den barmherzigen Samariter, du weiÃt, was ich meine.« Damit die Tochter noch genauer erfuhr, was sie meinte, sprach sie von Mord, Vergewaltigung, Aids und all den anderen Gefahren, denen sich die grenzenlosen Ãrzte im Kongo, in Afghanistan und anderen Winkeln der Erde aussetzten.
»Ãrzte ohne Grenzen«, verbesserte Maja.
»Ich weiÃ, aber ausgerechnet Norwegen â¦Â«
Maja holte tief Luft und zählte die Minuten, bis sie sich erlauben konnte, endlich aufzulegen.
»Jan war am Samstag hier«, sagte ihre Mutter plötzlich.
Maja setzte sich im Sofa auf. »Mein Jan?«
»Welcher denn sonst? Er sagt, er hätte vergeblich versucht, dich zu erreichen.«
Maja bekam einen trockenen Mund. Ihr wurde heià und kalt bei dem Gedanken, worüber ihre Mutter und Jan in ihrer Abwesenheit geredet haben mochten.
»Und?«
»Er weià ja, dass wir uns um deine Post kümmern, und hat gesagt, dass er einen Brief für dich hat.«
»Und???«
»Dann hat er nach deiner Adresse gefragt. Es hörte sich ziemlich dringend an.«
»Und natürlich hast du ihm meine Adresse gegeben.«
»Natürlich nicht! Deshalb rufe ich ja an.« Ihre Mutter klang gekränkt.
»Um was geht es denn in dem Brief?«
»Das weià ich doch
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