Die Anatomie des Todes
nicht. Also da mische ich mich nicht ein.«
Letzteres stimmte im GroÃen und Ganzen, und die Mutter lieà es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen,
dass sie sich jedenfalls ansehen sollte, was er ihr mitteilen wollte.
Maja schnitt ihr das Wort ab. »Du kannst ihm meine hiesige Adresse geben. Dann schauen wir mal, ob mich der Brief erreicht, ehe ich weg bin.«
»Wo willst du denn hin?«
»Richtung Norden. Ich ruf dich bald wieder an.«
»Pass auf dich auf, mein Schatz.«
»Bis dann.« Maja legte auf und fragte sich, ob sie je wieder in der Lage sein würden, ein normales Gespräch miteinander zu führen.
Sie betrachtete den Berg an Rechnungen. Sie hatte weder Lust, diese zu sortieren, noch daran zu denken, was Jan ihr mitteilen wollte. Irgendwann musste er doch einsehen, dass ihre Beziehung keine Zukunft mehr hatte. Sie war vor neun Monaten ausgezogen, und obwohl sie sieben Jahre lang ein Paar gewesen waren und die Trennung sie beide sehr geschmerzt hatte, musste auch Jan seine Zukunft endlich in die eigenen Hände nehmen.
Sie zog ihre Joggingschuhe an. Ein Lauf über die Brücke würde ihr guttun und alle Gedanken an zu Hause in weite Ferne schieben. Sie nahm sich ihren Kapuzenpullover sowie das Käppi mit dem hellroten Flamingologo vom Garderobenhaken im Flur.
Sie war noch nicht lange unterwegs, als ihr die salzige Meeresluft in der Kehle brannte. Ihr gesamter Körper schmerzte, während sie sich über die Brücke quälte. Der steile Anstieg bis zur Achtundzwanzigmetermarke auf der Mitte der Brücke sorgte dafür, dass die Milchsäure ihre Beine lähmte und jeden Schritt zu einem Willenskampf machte. Sie lief an der Werft vorbei und spurtete der Losgata entgegen. Ihr Ziel war die Kreuzung. Während sie nach Luft schnappte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Rekordverdächtig war ihre heutige Zeit nicht gerade.
Gemächlich schlenderte sie die Losgata entlang. Sobald sie wieder zu Atem gekommen war, wollte sie ein bisschen Stretching machen, damit Kvam zu Hause was zu glotzen haben würde. Sie passierte Lilleengens Haus. Die Scheibe zum Nachbargrundstück war geborsten, das Fenster stand offen. Im Vorbeigehen bemerkte sie, dass auch die Haustür offen stand. Auf der Schwelle stand ein mittelgroÃer Pappkarton. Es sah so aus, als hätte jemand eingebrochen und das Haus fluchtartig wieder verlassen. Sie betrachtete den vom Regen aufgeweichten Karton. Er musste schon seit geraumer Zeit dort stehen. Sie schaute sich rasch um, ehe sie durch das offene Gartentor schlüpfte. Aber bis zur geöffneten Haustür wollte sie erst gehen, wenn sie ganz sicher war, dass das Haus leer stand. Sie schlich quer über die Rasenfläche bis zum nächsten Fenster. Die Scheibe war so trüb, dass man kaum hindurchsehen konnte. Mit dem Ãrmel wischte sie den Schmutz vom unteren Teil und hielt den Kopf ganz dicht ans Fenster. Mit Mühe konnte sie einen umgeworfenen Sessel und einen Tisch ausmachen, dessen Beine in die Luft ragten. Der Bezug des Sofas war aufgeschlitzt worden. An der Wand befand sich ein groÃes Graffiti. Jemand hatte mit roten Buchstaben »Lone J. ist eine Nutte« gesprayt. Darüber ein steifer Schwanz, aus dem Sperma auf zwei riesige Brüste spritzte. Auch die gegenüberliegende Wand war beschmiert worden.
Maja ging zur Haustür und warf einen Blick in den Pappkarton. Die Tülle einer alten Kaffeekanne schaute zwischen zerfledderten Trivialromanen und einer Handvoll Kassetten hervor, deren Bänder sich wie lange Girlanden ringelten. Vermutlich waren die Kinder auf ihrem Raubzug überrascht worden und hatten die Beute zurücklassen müssen. Hoffentlich war die Polizei so vernünftig gewesen, sämtliche Medikamente zu beschlagnahmen, damit es ihr erspart blieb, einige dieser Kinder in der Notaufnahme wiederzusehen.
Sie wollte sich gerade entfernen, als sie etwas bemerkte, das auf der linken Seite zwischen Karton und Türstock eingeklemmt war. Sie bückte sich und nahm ein paar aneinanderklebende Fotos in die Hand. Das erste war die vergilbte Aufnahme eines kleinen Jungen mit Cowboyhut, der auf einem orangefarbenen Fahrrad saÃ. Behutsam begann sie, die einzelnen Bilder voneinanderzulösen. Das nächste zeigte den Jungen ein paar Jahre später in einem Vergnügungspark. Sie blätterte weiter und stieà auf ein Klassenfoto. Auf den ersten Blick konnte sie den Jungen unter den
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