Die Anatomie des Todes
gesprochen hatte, war es doch möglich, dass sie etwas übersehen hatte. Wenn Ãivind als Patient im Ãrztehaus registriert war, dann besaÃen sie auch seine Adresse und Telefonnummer. Eva Lilleengen hatte gesagt, dass er gerade auf See war. Sie fragte sich, wie lange ein Fischer wie er unterwegs war, ehe er zurückkehrte. Tage oder Wochen? Wie dem auch sei, sie würde ihn erwarten, wenn er nach Hause kam. In der Zwischenzeit konnte sie schon mal versuchen, an den Obduktionsbericht heranzukommen. Die chemischen Proben gaben darüber Auskunft, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden eingenommen hatte, was möglicherweise Rückschlüsse auf den Verlauf seines letzten Abends erlaubte. Der pathologischen Abteilung des Skansenbakken-Krankenhauses lag der Bericht bestimmt schon vor. Jetzt musste Maja nur noch herausfinden, wer die Obduktion vorgenommen hatte, und die betreffende Person von ihrem Anliegen überzeugen.
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Es kam Milten sehr gelegen, dass Maja ihren Vertrag um einen weiteren Monat verlängerte, wenn auch nur wegen des akuten Ãrztemangels. Ihr Waffenstillstand basierte auf einer brüchigen Grundlage.
Eigentlich hatte sie nur für weitere vierzehn Tage zusagen wollen, doch Milten hatte sie vor die Wahl gestellt, entweder gleich um einen ganzen Monat zu verlängern oder gar nicht. Normalerweise war er viel zu nervös, um sich auf solch ein Risiko einzulassen, doch zu Beginn der Jagdsaison waren er und die ganze Stadt wie verwandelt. Als hätte man ihnen allen einen kräftigen Schuss Testosteron direkt in die Herzkranzarterie injiziert.
In der Storgata blieben mehrere Geschäfte geschlossen. »Auf der Jagd« stand auf den handgeschriebenen Schildern an den verschlossenen Türen. In dieser Stadt war das eine allgemein akzeptierte Begründung, um den Konsum zu bremsen. Maja war letzte Woche unten am Hafen gewesen, doch auch hier, wo normalerweise hektische Betriebsamkeit herrschte, war kein Mensch zu sehen. Die Jagd auf dem Meer war durch die Jagd an Land ersetzt worden.
Sie versuchte Ãivinds Adresse herauszubekommen, doch niemand im Ãrztehaus konnte sich an einen Patienten mit diesem Vornamen erinnern. Sicherheitshalber sah sie im Archiv unter dem Buchstaben à nach, doch ohne Erfolg. Eine Anfrage bei den übrigen Ãrzten in dieser Stadt hatte keinen Sinn, solange sie seinen Nachnamen nicht kannte. Sie rief Eva Lilleengen an, aber die hatte niemals Umgang mit Jos Freunden gepflegt, wie sie sich ausdrückte. Darauf
versuchte Maja den Pathologen zu ermitteln, der die Obduktion des Toten vorgenommen hatte.
Mit Hilfe einiger Schokoladencroissants für das Personal der Notaufnahme fand sie heraus, dass es der Chefpathologe des Hauses, Joseph Linz, gewesen war, der Lilleengen obduziert hatte. Vergeblich wählte sie mehrmals seine Durchwahl. Dann schnappte sie sich einen der Laboranten, der ihr mitteilte, dass auch Linz sich unter den Jägern befand.
Sie schrieb ihm eine Nachricht, in der sie ihn bat, sie anzurufen. Als sie den Zettel gerade in sein Fach legen wollte, sah sie durch die Glastür der Notaufnahme, dass Blindheim gerade gekommen war. Er humpelte zum Empfang. Die khakifarbene Daunenweste und seine langen Schürstiefel deuteten darauf hin, dass er ebenfalls an der Jagd teilnahm. Da die Stiefel aber sauber waren, vermutete sie, dass ihm dieses Vergnügen noch bevorstand.
Die Frau am Empfang drückte auf den Knopf der Sprechanlage und fragte, worum es ginge.
Blindheims Stimme hatte einen blechernen Klang. »Ich hätte gerne einen Arzt gesprochen.«
»Sie müssten mir schon sagen, worum es geht.«
»Ich blute.«
»Wo?«
Blindheim warf ihr einen verlegenen Blick zu, ehe er antwortete: »Hinten.«
»Wie ist das passiert?«, fragte sie mit gleichgültiger Stimme.
Blindheim schwankte ein wenig hin und her und suchte nach den richtigen Worten. »Als ich auf der Toilette war, habe ich plötzlich Blut gesehen. Viel Blut.«
»Bluten Sie immer noch?«
»Ich glaube schon.«
Maja bat sie, eine Krankenschwester zu holen und mit
ihm in Zimmer 3 zu gehen, dann würde sie sich gleich selbst um ihn kümmern.
»Ich dachte, Sie wollten frühstücken.«
»Später.«
Die Frau zuckte die Schultern und beorderte eine Krankenschwester in die Notaufnahme.
Eigentlich behandelte Maja nur ungern Patienten, die sie persönlich kannte. Das lenkte zu sehr vom Fachlichen ab.
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