Die Anatomie des Todes
Weise fühlte sie sich von ihm betrogen. Sie hatte ihre kleine Rede vorbereitet, und jetzt kam er ihr zuvor und bot ihr ganz unverfänglich seine Freundschaft an. Stig verwirrte sie. Wahrscheinlich war es gut, dass sie ihn und die Stadt bald verlassen würde.
»Ich habe die Pressekonferenz mit Blindheim gesehen.«
Stig nickte. »Die tappen völlig im Dunkeln. Ich habe Blindheim noch nie so gestresst erlebt. Er sah unheimlich schlecht aus, als wäre er krank.«
Blindheims gastroskopische Untersuchungen erwähnte sie nicht.
»Was ist mit dir? Hast du was herausgefunden?«
Stig schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir haben inzwischen mit sämtlichen Alkoholikern der Stadt gesprochen. Auf dem Marktplatz, im Park ⦠wir haben sogar ein paar alte Bekannte in Kvams Viertel besucht. Aber keiner wollte uns was erzählen. Stattdessen sah man die Angst in ihren Augen.«
»Angst wovor?«
»Dass es genauso gut einen von ihnen hätte treffen können.«
Sie trank einen Schluck Bier. Fast hatte sie das Gefühl, dass sie es »durchbeiÃen« musste.
»WeiÃt du, wann der Bericht der Pathologie vorliegen wird?«
»Du meinst, vom Skansen?«, fragte Stig.
Sie schaute ihn überrascht an. »Wird die Obduktion im Skansen durchgeführt?«
»Blindheim zufolge zumindest hier in der Stadt.«
»Und natürlich von Joseph Linz persönlich.«
Stig nickte. »Ich glaube, Kommissar Blindheim will die
Ermittlungen hier in der Stadt halten. Auf diese Weise verhindert er, dass womöglich noch Leute von Kripos anrücken.«
»Kripos?«
»Die Landeszentrale der Kriminalpolizei in Oslo.«
»Du meinst, er legt gar keinen Wert auf Unterstützung?«
Stig zuckte die Schultern. »Das hat der Kommissar sicher nicht allein zu entscheiden.«
»Wer dann?«
»Aus dem Rathaus hat es in den letzten Tagen wohl mehrere Anrufe auf dem Revier gegeben.«
Ihr stand das Erstaunen ins Gesicht geschrieben. »Du meinst, die bekommen regelrechte Anweisungen, was zu tun ist?«
»Bestimmt nicht offiziell, aber sie sind sicher angewiesen, den Fall so rasch und diskret wie möglich aufzuklären.«
Stig trank einen Schluck, ehe er fortfuhr: »Hier war man schon immer penibel auf den Ruf unserer Stadt bedacht. Davon können wir bei LokalNyt ein Lied singen. Manchmal haben wir eher das Gefühl, dem Propagandaministerium als einem unabhängigen Fernsehsender anzugehören.«
»Die können doch wohl nicht entscheiden, was ihr sendet!«
»Nein, aber sie versuchen tagtäglich darauf Einfluss zu nehmen.«
»Vielleicht tut es der Stadt ja ganz gut, wenn sie mal aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen wird.« Mit einer Grimasse leerte sie ihr Glas, ehe sie es abstellte. »Danke für das Bier.«
»Willst du schon gehen?«
Maja nickte. »Ich muss meinen Rock noch bei der Polizei abliefern.«
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Sie schlenderten über den halbleeren Parkplatz. Die Hagelkörner eines kurzen Gewitterschauers, der gerade vorüber war, tanzten um ihre FüÃe.
»Vielleicht sollte es ⦠in gewisser Weise ⦠eine Botschaft sein.«
Stig schaute sie interessiert an. »Wie meinst du das?«
Maja zuckte die Schultern. Im Grunde wusste sie selbst nicht genau, was sie damit hatte sagen wollen. »Du hast doch selbst erzählt, dass du von einigen Morden im Drogenmilieu weiÃt â¦Â«
»Ja.«
»Wie brutal waren die?«
Stig wusste offenbar nicht, was er antworten sollte.
»Ziemlich brutal, viele wurden erstochen.«
»Auch gefoltert?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, häufig waren es wohl Streitereien, die völlig aus dem Ruder liefen. Die meisten sind entsetzt, wenn sie wieder nüchtern sind. Würde mich nicht wundern, wenn am Montag irgendein Säufer die Tat gesteht.«
Maja schloss ihren Wagen auf. »Hoffen wirâs.«
»Du hörst dich skeptisch an.«
»Kann ich dir immer noch vertrauen?«
Er nickte. Dann erzählte sie über das Dach ihres Autos hinweg davon, wie Kvam verunstaltet worden war: von seinem zerschnittenen Gesicht und den Stichverletzungen im Bauch. »Wer auch immer Kvam diese Verletzungen zugefügt hat, wollte nicht, dass er sofort stirbt. Sonst hätte er ihm gleich eine tödliche Wunde am Hals oder in der Herzregion zugefügt. Kvam wurde bei lebendigem Leib zerstückelt, und das sehr
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