Die andere Haut: Roman (German Edition)
umher, blicken in die Ferne und bleiben irgendwann stehen.
„Du bist so still“, bemerkt er.
„Ich konnte nicht schlafen.“
Er grinst. „Welcher der Jungs hat dich wachgehalten?“
„Beide.“
„Nimmersatt.“
„Ich weiß.“ Sie lacht und tritt näher an den Abgrund. Etwas an der Tiefe und Weite, die ihr zu Füßen liegt, tut ihr gut. Alles liegt so dicht beieinander, denkt sie. Im Leben und der Liebe. Sie träumt von einem Körper und hofft auf Transzendenz. Sie sehnt sich nach Fesseln, um sie wieder und wieder zu sprengen. Ein Schritt zu weit nach vorn und sie fiele.
„Pass auf“, bittet Jan, als habe er ihre Gedanken erraten. Ihm zuliebe tritt sie einen halben Schritt zurück. Dann spürt sie ihn hinter sich, wie er die Arme um ihren Bauch schlingt, sie an sich zieht, und so stehen sie eine Weile. Sie streichelt ihm die verschränkten Hände, schließt die Augen und genießt die Wärme in ihrem Rücken. Alles ist still, alles ist eins, alles ist leicht.
Irgendwann ist es doch so weit, der Kuss aus den Lüften. Lara dreht sich um, und sie halten einander, dann finden sich ihre Münder, die Lippen nur, eine Brise, ein Schmetterlingskuss, schließ die Augen, ein Traum, ein Licht, Sekunden, vorbei.
Jan grinst, ein bisschen verlegen, ein bisschen frech, und um seine fast durchsichtig blassblauen Augen bilden sich winzige Lachfältchen.
„Ich habe heute Geburtstag“, sagt er.
Einen Augenblick vermutet sie, dass er es als Metapher meint, mit welcher Bedeutung auch immer, aber das ist natürlich Unsinn.
„Warum hast du davon nichts gesagt?“ fragt sie, und als er mit den Schultern zuckt, schlägt sie vor:„Lass uns bei Malin und Linda vorbeigehen, wenn wir wieder unten sind. Sie sollen ein paar Freunde einladen, und dann feiern wir ein bisschen. Was meinst du?“
„Ja, warum nicht.“
Jan fotografiert Lara, Lara fotografiert Jan, dann halten sie die Kamera in die Sonne und lachen zu zweit hinein, bevor sie sich auf den Rückweg machen und wieder zu denken beginnen.
„Das vorhin …“, fängt Jan an.
„Ist nicht passiert.“
„Doch, aber …“
„Es war der Moment. Nicht mehr und nicht weniger. Okay?“ „Okay. Danke.“
„Keine Ursache.“
Sie wissen, dass es nicht mehr passieren wird. Eine winzige Episode im Raum. Glitzernder Staub.
Kapitel 8
Schmetterling
Jetzt zählen die Tage, bald zählen die Stunden. Die Endlichkeit ihrer Sommerliebe ist Lara vollkommen bewusst. Was für eine Fortsetzung sollte es auch geben? So schön Ricardos Land ist, sie könnte niemals hier leben. Sie würde ersticken in der Rolle, die sie hier spielen müsste, würde sie überhaupt eine glaubhafte finden. Ersticken auf Grund der Erwartungen, die hier an eine Frau gestellt werden und an deren abgeschwächter, entspannter Version sie schon in Deutschland oft genug verzweifelt. Diese fade Unterteilung in Mütter und Huren, die keine Graustufen zulässt, viel zu wenig Freiheit und Lust.
Und Ricardo? Gut möglich, dass er ihr sogar folgen würde nach Europa, aber dann? Ein, bei aller Sensibilität und Offenheit, vom lateinamerikanischen Machismo und Katholizismus geprägter Mann und sie, die ihre Ungebundenheit liebt. Von der er aller Wahrscheinlichkeit nach erst einmal abhängig wäre. Finanziell. Sprachlich. Emotional. Eine Schieflage, die ihm mehr Stärke abverlangen würde, als sie ihm zutraut. Und sich selbst? Ihr fehlt der Mut für den Versuch, vielleicht auch das entscheidende Stückchen Wahnsinn. Es führt kein Weg zu einem gemeinsamen Leben. Liebe ist alles und reicht manchmal trotzdem nicht.
Am nächsten Morgen in der Schule. „Guten Morgen, Lara“, begrüßt er sie förmlich.
Sie wagt ein kleines Lächeln. „Guten Morgen, Ricardo.“ Lächerlich kurz ist die Zeit, die ihnen bleibt, und ob er sie nutzen möchte, ist ungewiss. Wer weiß, was an all den Gerüchten dran ist, vielleicht wollte er sie lediglich als Trophäe in seiner Sammlung, ein Don Juan, der jede liebt, nur niemals länger als eine Nacht.
Aber ist sie denn besser? Lachend hat sie ihn zum Abschied geküsst, als er vor wenigen Stunden aufgebrochen ist in die Nacht. „Das wurde aber auch Zeit mit uns“, hat sie gescherzt, und schlimmer noch, hinzugefügt, dann stimme ja das Klischee, lateinamerikanische Männer seien zwar nichts zum Heiraten, aber „bueno para divertirse“, gut, um sich mit ihnen zu amüsieren. Sie habe die Nacht tatsächlich sehr genossen. Sein Lächeln daraufhin hat unsicher gewirkt, fast ein wenig bedrückt, woraufhin
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