Die andere Seite des Glücks
»Ich wünschte, Sie hätten angerufen, ich hätte die Kinder länger bei mir behalten.«
»Schon gut, es geht mir schon besser.«
»Hoffentlich kriegen die Kinder nichts ab.«
Ich beugte mich vor und umarmte Annie.
»Grippe ist wirklich ansteckend«, fügte Paige hinzu.
O leck mich, Miss Dammich.
Ich nahm ihr Zach ab, dessen schwerer Kopf zwischen uns hin und her wackelte. »Auf Wiedersehen«, sagte ich.
Sie beugte sich vor und küsste Zach, wobei ihre Haare mein Gesicht streiften und einen Hauch Zitrusduft in der Luft hinterließen. Er wachte auf und wand sich aus meinem Arm, um Callie zu streicheln. Paige drückte Annie. »Ruf mich morgen wie verabredet an, Zuckerschnütchen.«
»Okay, Mama.«
»Seid nett zu Ella.«
Noch bevor ihr Fuß die erste Stufe der Verandatreppe berührte, hatte ich die Tür geschlossen, doch ich riss sie wieder auf. Ich konnte nicht anders. »Paige?«
Sie drehte sich um.
»Es heißt nicht
Ella
.«
»Entschuldigung? Habe ich Ihren Namen falsch verstanden?«
»Die Kinder nennen mich Mommy.«
»Tatsächlich?«
»Ja, tatsächlich. Und zwar seit drei Jahren. Aber das können Sie ja nicht wissen, Sie waren ja nicht da.« Ich schloss die Tür. Annie und Zach standen mit ihren regennassen Ballons in der Hand da und sahen mich an. »Ist vielleicht jemand hungrig?«
Beide schüttelten den Kopf. »Ich will nur noch schlafen«, sagte Annie.
»Diese Mama hat uns in ein schickes Restaurant mitgenommen.« Zach seufzte, und beide kletterten in ihr Bett, bevor ich eine Chance hatte, sie in meins zu locken. Ich wusste, dass das auch besser so war, denn wir brauchten wieder ein bisschen Normalität. Trotzdem musste ich mir auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen, ob sie sich nicht einsam fühlen würden. Sie waren zu müde, um zu reden, und so strich ich ihre Bettdecken glatt und sah ihnen beim Einschlafen zu, die Gesichter von den neuen Ponyfransen gerahmt. Auf dem Dach plätscherte der Regen ein Gutenachtlied. Die beiden Luftballons hingen in gegenüberliegenden Ecken unter der Zimmerdecke.
Meine Anspannung war so groß, dass ich bezweifelte, wieder einschlafen zu können. Ich lag auf dem Rücken und lauschte dem stärker werdenden und schließlich hämmernden Regen, hörte Zweige über die Hauswand kratzen. Alles an Paige bereitete mir Sorgen. Ich schlug mit der Faust aufs Kissen und stand auf. Wie lange war es her, dass ich die letzte Tablette genommen hatte? Ich erinnerte mich nicht mehr, doch ich wusste, dass es Zeit für die nächste war. Sicherheitshalber nahm ich gleich zwei, schließlich musste ich gut erholt aufwachen, um Annie in die Schule und Zach in den Kindergarten bringen zu können.
Doch am Morgen strich mir ihr hauchzartes Flüstern über Nase und Wange. »Warum macht sie die Augen nicht auf?«, fragte Zach jetzt Annie. Ich zwang mich, sie zu öffnen, und sah in vier große blaue Augen, die nur Zentimeter von mir entfernt wortlos noch mehr Fragen stellten. Ich musste sofort aufstehen und Frühstück machen, doch ich schaffte es nur, mich kurz auf die Ellbogen zu stützen, um dann gleich wieder ins Kissen zu fallen.
»Mommy ist nur müde«, sagte ich. »Annie, kannst du Frühstücksflocken und Milch auf den Tisch stellen?« Sie nickte. »Und … ruf … Onkel David an.« Callie sprang vom Bett und lief hinter ihnen her. Endlich, nach vielen Wochen mit nur kurzen Schlafphasen, schlief ich lang und tief!
Ich träumte – schwere Träume mit verworrener Handlung, an die ich mich nach dem Aufwachen kaum mehr erinnerte. Und dann das: Joe beim Tauchen. Joe und ich, wie wir händchenhaltend mit Schwimmflossen an den Füßen sanft durchs Wasser gleiten, anmutig im Gleichklang wie choreographierte Balletttänzer. Er weist mich auf Korallen- und Muschelbänke in der Farbe von Sonnenuntergängen hin. Ich will ihn etwas fragen und zeige nach oben, schwimme zur Wasseroberfläche. Als ich auftauche, ist der Himmel über mir grau. Ich warte wassertretend auf Joe, der aber nicht kommt.
Ich tauche wieder hinab, um ihn zu suchen, bahne mir einen Weg durch gestrüppartiges Seegras, rufe lautlos seinen Namen. Dann höre ich über mir meinen Namen rufen, kämpfe mich nach oben, strample mit aller Kraft zu der Stimme hin.
Ich wache um mich schlagend in Davids Armen auf. »Ella, meine Liebe, ich bin’s, David. Du träumst.«
»Ich hätte fast …«, flüsterte ich. »Fast.« Ich hätte fast mit Joe gesprochen, ich hätte fast ein paar Antworten bekommen. Aber eben nur fast.
»Ella,
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