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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Unterhosen stopften und schnell in Zorn gerieten, trug sie strenge
Schneiderkostüme und wurde gern ironisch. Sie hielt ihren Unterricht mit
starrer Miene und redete mit zusammengebissenen Zähnen ganz leise gegen die
summende Geräuschkulisse der schwatzenden Klasse an. Die meisten ihrer Schülerinnen
behandelte sie mit nachsichtiger Geringschätzung, und sie wiederum fanden sie
hochnäsig, denn es war offensichtlich, daß ihr Denken sich in anderen Zeiten
und anderen Welten bewegte, die sehr viel offener waren als das England und
zumal das Whitchurch der Nachkriegszeit.
    Einmal erschien sie im Winter
in einem auffallend schicken Kostüm aus dunkelviolettem Tweed, das sie anderswo
gekauft haben mußte. Nach dem Mittagessen im Lehrerzimmer — und nach dem Tee zu
Hause — rauchte sie gierig eine Zigarette, wobei sie den Rauch tief einsog und
mit geblähten Nüstern wieder ausstieß. Als sie uns in der fünften Klasse in
neuerer europäischer Geschichte unterrichtete, benutzte sie ein Lehrbuch mit
zeitgenössischen Karikaturen und konzentrierte sich auf die Französische
Revolution. Latein verkörperte für sie stoische republikanische Tugenden,
klassische Kultur, Fortschritt, Aufklärung. Sie war Agnostikerin, bewunderte
die Vernunft und genoß die Satire. Sie war vor allem in geistigen Dingen auf
Ordnung bedacht und ließ sich von meinen zerzausten Haaren oder meiner
schlampigen Schrift nicht beirren, sondern lobte meinen Stil und zeigte mir,
wie ich meine Argumentation straffen konnte.
    Sie nahm die Tintenkleckse in
meinem Heft als Selbstverständlichkeit hin und beharrte nur noch diskreter auf
der Überlegenheit des Geistes über die Materie. Ich hatte mich durch ihre
Anerkennung schon immer geschmeichelt gefühlt, und jetzt klammerte ich mich
geradezu daran. Sie blieb zwar reserviert, aber sie taute immerhin so weit auf,
daß sie mir ihren New Statesman lieh. Ich las ihn gewissenhaft und
lernte dadurch einen ganz anderen Sozialismus als Onkel Bills proletarische
Ideologie kennen. Es gab auch Karikaturen im Statesman; der hintere Teil
enthielt ironische Gruppenbilder von Intellektuellen in Aktion, auf denen
Brigid Brophy besonders ins Auge fiel, weil sie oft die einzige Frau war. Miss
Roberts sprach selten unverblümt aus, was sie dachte, und als sie hörte, daß
Vic und ich uns über visionäre Offenbarungen bei Blake und Shelley Gedanken
machten und Vic sich brennend für Gerard Manley Hopkins interessierte, lieh sie
uns kommentarlos Aldous Huxleys Pforten der Wahrnehmung (einschließlich Himmel
und Hölle) und Die ewige Philosophie. Ihr Interesse an uns
beeindruckte meine Eltern und trug dazu bei, ein Studium in den Bereich des
Möglichen zu rücken. Vor allem aber halfen mir die Noten, die sie mir für meine
lateinischen Texte gab, einen Tag nach dem anderen zu überstehen, bedeuteten
sie doch, daß ich nicht völlig von meiner Schwangerschaft absorbiert war, wie
Dr. Clayton prophezeit hatte.
    Trotzdem kroch die Zeit im
Schneckentempo dahin, das Baby streckte sich und boxte, drehte sich aber nicht,
und Crosshouses drohte von fern. Eines Tages wurde Grandma von ihrem alten Zorn
heimgesucht und hielt uns einen Vortrag, in dem sie Vic, meinen Vater, Grandpa
und überhaupt alle männlichen Wesen verdammte, auch Clive, der einmal ein
behaarter Affe werden würde wie alle anderen, ein Rückschritt in der
Menschheitsentwicklung (nur ihr Billy blieb ausgenommen). Dann weinte sie
meinetwegen, eingedenk der Schrecken des Gebärens. Ich wollte mir nicht
vorstellen, was da im einzelnen passieren würde. Wörter wie »Entbindung« und
»Niederkunft« schwirrten in meiner Phantasie herum, aber es blieben bloße
Wörter. Im Grunde hatte ich mehr Angst vor dem Krankenhaus als vor dem Ereignis
selbst, und ich hatte insgeheim den Plan gefaßt (den ich sogar vor Vic
geheimhielt), das Baby zu Hause zu bekommen. Wenn die Wehen einsetzten, wollte
ich erst im letzten Moment etwas sagen, und dann würde man die 999 anrufen,
heißes Wasser aufsetzen und saubere Tücher bereithalten, denn das waren, wie
ich aus Filmen wußte, die Requisiten, die in einem solchen Fall benötigt
wurden. Bäuerinnen unterbrachen ihre Arbeit im Weinberg oder im Reisfeld
schließlich nur kurz, um ihr Kind zur Welt zu bringen.
    Der errechnete Termin war der
29. Mai, und pünktlich am 28. in der Abenddämmerung, als ich unruhig im Garten
auf und ab ging und an Unkräutern zupfte, spürte ich ein erstes Ziehen, und
bald gab es keinen Zweifel mehr: die Wehen.

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