Die Anfänge meiner Welt
wir zu Dr. Claytons Gunsten an, daß er nur
Whitchurchs Sprachrohr war, ein Vertreter dieser Stadt mit all ihrem Hochmut,
ihrer moralischen Erstarrung und ihren lüsternen Tagträumen. Ich ging der Frage
nicht weiter nach. Ich hatte, was Verhütung anbelangte, zwar noch wenig Ahnung,
aber ich hatte bestürzt das Diaphragma inspiziert, das meine Mutter ganz unten
in ihrem Schrank aufbewahrte, und war zu dem Schluß gekommen, daß ich dieser
Methode nicht würde trauen können — und Vic würde Kondomen nicht trauen. Und so
verzichteten wir auf Sex. Oder zumindest auf Geschlechtsverkehr. Hätte man das
in Whitchurch gewußt, wäre man schockiert gewesen, denn es war ein ehernes
Gesetz, daß man dem Mann seine »ehelichen Rechte« nicht verweigern durfte (ich
schon gar nicht, weil Vic ja so anständig gewesen war, mich zu einer ehrbaren
Frau zu machen).
Wir glaubten, daß wir schon
einen Weg aus dieser Sackgasse finden würden, aber im Laufe der Zeit war es
gerade unsere Enthaltsamkeit, die unsere Vertrautheit festigte. Wir waren
Bruder und Schwester. Wir waren auf amöbenhafte Zärtlichkeiten regrediert: Wir
redeten in Babysprache, wir hatten insgeheim seltsame Spitznamen füreinander
(Creep für ihn, Crumble für mich), die unsere schuldbewußte Unschuld
widerspiegelten, und wir standen in einem permanenten Dialog über andere Leute,
Ideen und Bilder. Hinter alldem verbarg sich eine mächtige Bedrohung, gegen die
der gesunde Menschenverstand keine Chance hatte. Jeden Monat von neuem war ich
trotz unserer Enthaltsamkeit überzeugt, durch irgendeinen bösen Zauber
schwanger geworden zu sein, und wurde von Wut und Verzweiflung heimgesucht. Das
prämenstruelle Syndrom wurde damals noch nicht ernst genommen, obwohl viele es
aus eigener Erfahrung kannten. Doch selbst wenn wir meinen Wahn hätten benennen
können, hätten wir ihn wohl kaum gebannt.
Vic hatte Geduld mit mir und
spottete nicht, denn er sah die Macht meiner Unvernunft. Die Grenzen zwischen
uns waren ein für allemal durchbrochen, wir verliehen der Vorstellung, daß Mann
und Frau ein Fleisch sind, einen neuen Sinn. Diese Art von Alchemie fand sich
auch in der Literatur wieder: »...eng vermischen und verschmelzen und mit dem
Geliebten zusammengeschweißt werden, so daß aus zweien eins wird.« Shelley
übersetzt hier Plato, der diese Worte Aristophanes in den Mund legt, dem
einzigen Verfechter heterosexueller Liebe im Symposium , die sich bei ihm
allerdings wie etwas Perverses anhört.
So sublimierten wir unsere
Bedürfnisse, und das sonderte uns noch mehr von unseren Freunden ab. Ich hatte
Gail zurückgewonnen — im Grunde hatte sie mich nie verlassen, ich selbst hatte
mich versteckt — , aber natürlich war es nicht mehr das gleiche, unsere Wege
hatten sich getrennt, und ich hatte etwas Neues zu verbergen. Sie war fremder, dominierender gewesen als Vic, aber jetzt war er an ihre Stelle getreten. Er
und ich, wir übernahmen die Freunde des anderen als Paar: In mancher Hinsicht
schienen wir älter als unsere Altersgenossen, sicherer in unseren Zielen, in
anderer blieben wir jünger, denn wir würden die Leidenschaft Heranwachsender
mitnehmen, wohin immer wir als nächstes gingen. An die Universität, hieß das
für uns, und unsere Prüfungsergebnisse waren auch gut genug, aber erst einmal
brauchten wir einen Studienplatz und Geld, i960 gab es noch kein
zentralisiertes System, und man bewarb sich bei beliebig vielen Colleges und
Universitäten. Aber alle verlangten eine vertrauliche Stellungnahme der Schule,
und wie die bei mir ausfallen würde, konnte ich mir nach der Schulfeier im
September denken.
Früher hätte ich die
Gelegenheit, nicht hinzugehen, freudig ergriffen — hatte man die Schule
verlassen, konnte man der Feier fernbleiben, es wurde dann nur der Name
verlesen — , jetzt aber war ich fest entschlossen, teilzunehmen und meinen
Preis aus dem vorangegangenen Jahr abzuholen. Die Rektorin war darauf vorbereitet:
Ihre Vorgängerin, Miss Lester, hielt die Rede, eine füllige, beliebte Lehrerin,
die sich besseren Dingen zugewandt hatte, und sie sprach über Charles Kingsleys
berühmte Worte: »Sei gut, liebes Mädchen, gescheit mag sein, wer will.« Während
ich zuhörte, sonnte ich mich in meinem Status als Ausgestoßene, aber mit dem,
was dann geschah, hatte ich nicht gerechnet. Als ich hinter der Hortensienreihe
die schreckliche Bühne des Rathauses überquerte, um meinen Büchergutschein in
Empfang zu nehmen, wurde der müde Applaus lebhafter,
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