Die Anfänge meiner Welt
gab auch einen
schemenhaften Mann im Haus — Grandmas älteren Bruder Stan — , aber der zählte
nicht, denn er hatte (nach einer flotten, vielversprechenden Jugend, wie es
hieß) einen gigantischen Zusammenbruch erlitten und sich nie wieder ganz davon
erholt. Jetzt, mit Mitte Fünfzig, war er eine spindeldürre, verlotterte Gestalt
mit verschwommenem, seltsam in die Ferne gerichtetem Blick, was daran lag, daß
er sich darauf versteifte, die Brille seiner Mutter zu benutzen, anstatt sich
eine eigene zuzulegen. Stan trübte kaum das Flair von Parfüm, Tagescreme und
Talkumpuder, aus dem die Hereford Stores für mich bestanden. Wie ein Geist
glitt er durch die Räume. Es gab auch noch zwei andere Brüder, doch die waren
vor langer Zeit weggezogen und galten als Ausgestoßene. Der ältere, Tom,
kümmerte sich um die Fleischereiabteilung des Geschäfts. Er war in Ungnade
gefallen, weil seine Haushälterin zugleich seine kaum verheimlichte Geliebte
war und er folglich derselben nichtswürdigen Männersekte angehörte wie Grandpa.
Und von Danny redete man in der Vergangenheitsform, als sei er gestorben, denn
er hatte die Frechheit besessen, in einem anderen Tal ein eigenes Geschäft zu
gründen. So blieb der Zauberkreis süßer, abgestandener Träume ungestört, oben
am Ende der ausgetretenen Treppe über dem alten Laden, dessen Front über zwei
Häuser reichte und über dessen Tür der Name der Familie — »Thomas« — verblaßte.
Das Haus war überheizt, mit
hochwertiger, pechschwarz glänzender Kohle, von Bergleuten, die sie als Deputat
erhielten, gegen Lebensmittel eingetauscht. Ein großer alter Herd stand in der
Küche, die topographisch hinter dem Laden im Erdgeschoß lag, bildlich
gesprochen aber im ersten Stock. Hier war wie beim Hutmacher aus Alice im
Wunderland eine immerwährende Teegesellschaft im Gange, von früh bis spät
und täglich außer sonntags, wenn Katie mit großem Zeremoniell und hochrotem
Gesicht einen (von Tom ausgewählten) Braten zubereitete. Den Rest der Woche
ernährten wir uns von Grandmas bevorzugter Kost: Butterbrot, getoastete
Teekuchen, Buttergebäck, Biskuitkuchen und dergleichen, dazu Dosenobst und
Kondensmilch. Es verstand sich von selbst, daß Kochen, Putzen und
Geschirrspülen einem »Dienstbolzen« oblagen, einer »skivvy« — laut Oxford
English Dictionary ein Mädchen für alles (meist pejorativ), erster
Beleg 1902, ein typisches Grandma-Wort also; 1902 war sie zehn — , aber wenn
man nun einmal keine hatte, versuchte man, mit möglichst wenig Geschirr
auszukommen, indem man beispielsweise den ganzen Tag dieselbe Tasse benutzte,
die man nur hin und wieder flüchtig ausspülte. Diese südwalisischen Sitten
erklärten zu einem guten Teil den Schmutz im Pfarrhaus: Es wäre in den Hereford
Stores sehr schwierig gewesen, einigermaßen regelmäßig und gründlich Wäsche,
Geschirr oder sich selbst zu waschen, denn die Wasserhähne waren größtenteils
eingerostet und befanden sich in unbenutzten Nebengebäuden, und Dienstbolzen,
die einst das Wasser für die Waschschüsseln in die Schlafzimmer hinaufgetragen
hatten, gab es nicht mehr. Trotzdem waren wir im Rhondda-Tal nie so schandbar
schmuddelig wie in Hanmer. Und die Hausarbeit, im Pfarrhaus eine nie endende
Plackerei für meine Mutter, unterblieb für gewöhnlich, was aber niemanden groß
störte.
Hanmer engte uns ein und drohte
unsere heimliche Verwahrlosung ans Licht zu bringen, in Tonypandy dagegen
schienen sich die Nachbarn in den steilen, holprigen Straßen nicht für die Eigentümlichkeiten
der Hereford Stores zu interessieren. Katie und Stan schwatzten mit den Kunden
und schufen dadurch eine Art Isolierung, einen Schutzwall aus Geplauder, hinter
dem sie unangefochten ihrer Überspanntheit frönen konnten. Ansonsten pflegten sie
keinen gesellschaftlichen Umgang mehr, und da sie sich mit ihren Verwandten
zerstritten hatten, lebten sie, wie es ihnen gefiel. Das hatte etwas
Wohltuendes und sogar Aufregendes in einer Zeit, da Reklame und
Frauenzeitschriften mit solch boshafter und konformistischer Bestimmtheit
vorschrieben, wie man zu sein hatte. Man sollte innerlich zusammenzucken beim
Anblick der Persilreklame: ein Junge, dessen Kopf herumfährt, als ein anderer
Junge — der mit dem persilweißen Hemd — an ihm vorbeistolziert. »Persil wäscht
weißer — und man sieht es !« Die Sauberkeitskonkurrenz. Es gab
natürlich Seifenpulver in den Hereford Stores, und die Bergarbeiterfrauen
schrubbten auf ihren Waschbrettern
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