Die Anfänge meiner Welt
verfolgt,
er hätte MB, Hilda und Grandpa zu keiner angemesseneren Buße verurteilen können
als zum Weiterleben in Hanmer.
MB war unverwüstlich; Ende der
fünfziger Jahre, mit Mitte Fünfzig, ging sie noch immer ihrer Arbeit nach. Ich
erinnere mich sehr gut an sie. Sie war manchmal ein wenig außer Puste, wenn sie
ihr Rad bergauf geschoben hatte, ihre rosigen Wangen zeigten bei genauem
Hinsehen geplatzte Äderchen, und ihre Locken waren weiß, aber sie war gesund
und munter und aus einem Guß, jeder stramme Zoll die Gemeindeschwester. Ich
erinnere mich deshalb so genau, weil Schwester Burgess nach Grandpas Tod, als
Grandma das Pfarrhaus räumen mußte und zu uns zog, jeden Tag kam, um eine
Urinprobe zu untersuchen (man wußte bei Grandma nie, ob sie sich nicht doch mit
Zucker vollstopfte) und ihr Insulin zu spritzen. Grandma konnte es nicht selbst
tun, denn inzwischen hatte sie auch noch die Parkinsonsche Krankheit und
zitterte zu stark, und meine Mutter war zu zimperlich. So kamen Hilda und MB
täglich wieder zusammen. MB sterilisierte dann eine lange Nadel (es gab damals
noch keine Einwegspritzen, und Grandma behauptete steif und fest, MB nehme
immer eine besonders stumpfe Nadel für sie), rieb Grandmas schwabbeligen Arm
energisch mit medizinischem Alkohol ab und stieß die grausame Spitze hinein.
Wenn sie wieder weg war, beschwerte sich Grandma, wie »grob« sie sei, aber von
einer so gewöhnlichen (damals ein sehr starker Ausdruck) Person sei ja
nichts anderes zu erwarten. Das Ritual war natürlich deshalb so faszinierend,
weil jeder wußte — sogar ich wußte es — , daß Schwester Burgess früher
Grandpas Freundin gewesen war und daß sie und Grandma sich deswegen haßten.
Wovon ich, bis ich das Tagebuch
las, nichts gewußt hatte — weil es in der dörflichen Überlieferung nicht vorkam
— , das war Grandpas nächstes amouröses Abenteuer, eines, das man ihm ernstlich
übelnehmen sollte. Kann es sein, daß der Klatsch als kommunale Kunstform das
Inakzeptable ausklammert, statt es bloßzulegen? Verglichen mit MB, war Marjorie
(kurz Marj) jedenfalls ein in höchstem Maße verdrängter und unrealer Geist.
Trotzdem konnte man sich, als ich nach ihr fragte, sehr gut an sie erinnern.
Marj war die frischgebackene beste Freundin meiner Mutter Valma. Valma, in
jenem Frühjahr 1934 gerade sechzehn geworden, ging noch zur Schule, und Marj
war ein oder zwei Jahre älter als sie. Sie war von der Schule abgegangen und
wußte nichts mit sich anzufangen, während sie auf einen Ausbildungsplatz als
Krankenschwester wartete. Sie war so oft im Pfarrhaus, daß sie schon fast dort
wohnte, denn sie hatte kein richtiges Zuhause. Ihre unverheirateten Tanten, die
beiden Misses Griffith, Lehrerinnen an der Schule von Hanmer, hatten die
uneheliche Tochter ihrer Schwester bei sich aufgenommen. Marjories Stellung in
der Dorfgemeinschaft war unklar, und sie war moralisch gefährdet (weil
elternlos), ein junger Mensch, dem sich der Pfarrer väterlich hätte zuwenden
müssen. Seine Affäre mit ihr war nicht einfach nur flegelhaft, sie war Sünde im
Quadrat. Oder eher in Potenz, denn er benutzte seine eigene Tochter als eine
Art Köder und als Tarnung.
Vielleicht war er auch nicht
ganz so berechnend. Doch nachdem Valma monatelang aus dem Tagebuch verschwunden
war, tauchte sie in jenem Frühjahr plötzlich wieder auf. Im Januar hatte er sie
auf die höhere Mädchenschule in Whitchurch geschickt (vor dem Krieg eine
Privatschule), und er hatte ihr ein Kleid für ihren ersten Ball gekauft, den
Lady Kenyon in Gredington gab. Das fiel in die Zeit, als er sich auf so
unschöne Weise MBs entledigte, die Zeit seiner post-theatralischen Melancholie,
und vielleicht war er mit einemmal bezaubert von der jungen Frau, zu der seine
Tochter herangewachsen war (ein lebendes Aschenputtel?), als er mit ihrer
Freundin Marj zu flirten begann und Schlimmeres. Paradoxerweise wirkt das Ganze
harmloser — oder zumindest spontaner — , wenn man eine Prise Inzest hinzugibt.
Er war jetzt rettungslos verliebt in die Jugend, in das, was sein könnte, in
das flüchtige Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit und in die unbestimmte
Zukunft, die vor ihm lag. Es war seine eigene Jugend, nach der er die Hand
ausstreckte: »Ich wünschte, ich wäre frei von allen Verpflichtungen und könnte
gehen, wohin ich will«, schrieb er am 3. März. Er holte sein Fahrrad hervor und
ölte es für den Frühling, und er erwähnte, daß ihm die Zeit lang werde... Er
wollte das
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