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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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entfremdet. Anders war es bei der Affäre
mit Marj, denn diesmal war er (wie mir jetzt klar wird) nicht so sehr Hilda
untreu, als vielmehr ihr selbst — er betrog sie mit ihrer Freundin, er benutzte
sie, brachte sie in Verlegenheit, machte sie zum Sexobjekt, noch ehe sie ihre
eigenen Bedürfnisse richtig wahrgenommen hatte... Sie muß brennende Scham
empfunden haben, zumal wenn sie eifersüchtig auf Marj war, was nicht
unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, welche Rolle sie in Südwales in
Grandpas Leben gespielt hatte.
    Und es gab noch einen anderen
schmählichen Verrat. Grandpa schien vergessen zu haben, daß sie ein gescheites
Mädchen war, und verlor in seiner hektischen Besessenheit von der Jugend als solcher
jegliches Interesse an ihrem Verstand und ihrem Charakter. Ob er Marjs jungem
Leben Schaden zugefügt hat, sei dahingestellt (anscheinend ging sie rechtzeitig
zu ihrer Schwesternausbildung weg und kam später nur noch gelegentlich nach
Hanmer, wenn es ihr gerade einfiel), im Gefühlsleben seiner Tochter aber
hinterließ er tiefe Wunden. Sie verlor all die erwartungsvolle Zuversicht, die
man bei dem strahlend jungfräulichen Mädchen von 1934 ahnt. Sie wurde übermäßig
streng in allem, was den Körper und seine Bedürfnisse anbelangte, und es grenzt
in meinen Augen an ein Wunder, daß sie es über sich brachte, für meinen Vater
eine Ausnahme zu machen, zu heiraten und sich fortzupflanzen. Sie war
schüchtern, ängstlich, sie vergaß fast alles, was sie bei Grandpa oder in der
Schule gelernt hatte, sie hielt sich für unfähig und dem Leben nicht gewachsen,
und sie entschuldigte sich noch dafür. Über Intimitäten jeglicher Art redete
sie nicht — und daher weiß ich, daß ihre »flotte« Jugend, dem Dorfklatsch zum
Trotz, ganz und gar unschuldig war, denn sie erzählte später recht offen von
Percy Davies und seinem Motorrad und von der unbeschwerten Zeit vor dem Krieg.
Dann wurde der schwarze Vorhang in ihrem Kopf wieder geschlossen, und sie zog
sich von neuem in sich selbst zurück.
    Ihr Rückzug ging jedoch nicht
schlagartig vonstatten, und er war auch nie ganz vollständig. In einem Winkel
ihrer Persönlichkeit blieb sie immer die Tochter ihres Vaters, sein Mädchen. Im
wirklichen Leben wurden sie füreinander zu Fremden, in der magischen Welt des
Unwirklichen aber — des Theaters — hatten sie einiges gemeinsam. In den Jahren
zwischen Marj und dem Krieg spielte Valma Hauptrollen in Aladin und die
Wunderlampe, Dick Whittington und Grandpas zweitem Aschenputtel. Sie
nahm auch weiter Gesangsunterricht, und solange Grandpa in Hanmer Pfarrer war,
blieb sie im Kirchenchor und sang bei Festgottesdiensten Solopartien. Die
Lieder aus den Theaterstücken summte sie, als ich klein war und sie wieder in
der Asche lag, noch immer vor sich hin. An eines erinnere ich mich noch gut:
»Wer sie jetzt wohl küßt (was sich, glaube ich, auf ›Wer jetzt wohl bei ihr
ist‹ reimte) / Wer im Arm sie hält / Wer ihr gefällt / Ihr Lügen erzählt...«
Wenn sie sang und spielte, war meine Mutter der Mensch, der sie hätte werden
können — strahlend, souverän, bezaubernd, oft witzig, extravertiert. Als ich
älter wurde, fand ich ihre Metamorphosen in den Aufführungen der
Frauenvereinigung und des Theatervereins unsagbar peinlich. Die Kluft zwischen
den beiden Seiten ihrer Persönlichkeit war so tief, daß mir ganz übel davon
wurde. Irgendwie brachte ich ihr Bühnen-Ich überhaupt nicht mit Grandpa in
Verbindung, so unerbittlich lehnte sie ihn ab. Doch gerade in diesem erlaubten Spiel wirkte sein Einfluß fort.
    Nicht viel mehr blieb auch von
seinen eigenen Freiheitsträumen übrig. Zwar kam er mit seinen Fehltritten
ungestraft davon, aber Hanmer wurde zur lebenslänglichen Strafe. »Du siehst
jetzt, du übler Schuft, was über dich gekommen ist. Du sollst jetzt
fortfahren...« Er stand erlaubtermaßen auf der Bühne, es war sein »Fach«, und
er blieb für immer auf diese Rolle festgelegt. Er ertrug sich, indem er die
Ironie seiner Lage genoß, über seine brachliegenden Talente sinnierte und in
dramatischen Predigten das Beste aus seiner Hoffnungslosigkeit machte. Er legte
sich bewußt etwas von der Aura der Untoten zu. Die Schürzenjägerei wurde zu
einem Gewohnheitslaster — er glaubte nicht mehr daran, daß Sex eine Art
Passierschein in eine andere Zukunft sei, und scheint sich dem Typ
verständnisvolle alte Jungfer mit überschüssigen Liebesgefühlen zugewandt zu
haben. Und er legte sich eine weitere

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