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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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heutiger Währung nur etwa vier Pfund, Gewinnstreben als Motiv scheidet also
aus; und die Tatsache, daß keine Tränen flössen, hat etwas »schrecklich
Bedeutsames«, denn selbst Judas wäre vielleicht errettet worden, wenn er
wahrhaft bereut hätte. Und dann, in der letzten Version, wird Judas vollends
zur tragischen und paradoxen Figur:
     
    Eine
ketzerische Sekte erfand die Geschichte, Judas habe gewußt, daß Jesus nach dem
Willen des Vaters und des Sohnes den Tod durch einen Akt des Verrats erleiden
sollte, damit die Welt frei sei, und er habe betrübt die ewige Schande auf sich
genommen. Wenn es so wäre, dann würde ihm gewissermaßen ebensoviel Ehre
gebühren wie Jesus.
     
    Diese originelle Auslegung war
natürlich falsch: In Wirklichkeit wollte Judas Jesus zwingen, sich zum König zu
erklären, und dann den Lohn für seinen Weitblick einheimsen, in Gestalt eines
hohen Amtes in der neuen Regierung. Als er sah, wie sehr er sich geirrt hatte,
nahm er sich aus Selbstmitleid und Enttäuschung das Leben. Keine Tränen, aber
»vielleicht mischte sich in seine Todesqual... die vage Vorstellung, er könne
in der Welt der Toten, hinter dem Schleier, vor seinen Gott treten und seine
Schuld bekennen«. Hat Judas sich umgebracht, um mit Jesus wiedervereint zu
werden? Wohl kaum... Nachdem Grandpa die Saat seiner eigenen Beinahe-Ketzerei
ausgesät hat, kehrt er mit der Metapher vom Herzen aus Eis, das nicht schmelzen
kann, wieder in den Schoß der Kirche zurück — »Man kann einen Eisblock im
Mörser in tausend Stücke zerstoßen, es bleibt dennoch Eis... Ein Mensch mag
versuchen, Zerknirschung zu empfinden... Er möge zu Jesus kommen. Die Sonne
Seiner Gerechtigkeit wird über ihm scheinen.«
    Das eigentliche Mysterium ist
die Gnade Gottes. Doch es bleibt reichlich Raum für wilde Spekulationen.
Grandpa hatte viel für die barocken Einfälle der Dichter des siebzehnten
Jahrhunderts übrig, die damals wieder in Mode kamen. Sein Favorit scheint der
fromme, aber hintergründige George Herbert gewesen zu sein, dessen Gedicht »Der
Altar« er in voller Länge abgeschrieben hat, und zwar so, daß es auf der Seite
die Form eines Altars annimmt. »Einen zerbrochenen Altar, Dein Diener, o Herr,
Dir setzt / Aus einem Herzen gemacht, mit heißen Tränen benetzt...« Daß Herbert
sich als einfacher Mann gab, als schlichter Landpfarrer, dabei aber ein
tiefsinniger Ironiker war, muß Grandpa stark angesprochen haben. Mich
faszinierte es jedenfalls. Herbert nahm in einer Arbeit, die ich in den
sechziger Jahren zum Thema »Gedichte über Dichtung im siebzehnten Jahrhundert«
schrieb, breiten Raum ein. Erst später, als ich die Stellen wiedererkannte, die
Grandpa ausgesucht hatte, merkte ich mit leichtem Schaudern, daß ich genau
diese Zitate analysiert hatte. Ich muß sie unbewußt für künftigen Gebrauch
gespeichert haben. Heute kann ich sie ihm nicht mehr in den Mund legen, denn
ich kann seine Stimme nicht mehr hören, sosehr ich mein Gedächtnis auch
anstrenge. Sein Bild dagegen habe ich jederzeit sofort vor Augen, hager und angespannt,
bemüht zu überzeugen.
    So stand er da, als ihn sein
erster Schlaganfall traf — auf der Kanzel, mitten in der Predigt. Zwei Bässe
aus der hinteren Reihe des Chors hoben ihn auf, und aus irgendeinem Grund
trugen sie ihn nicht in die Sakristei, sondern den Mittelgang hinunter und
durch die Tür im hölzernen Lettner in den Glockenturm. Der Rest des Chors
folgte, und dann standen wir alle um ihn herum und warteten auf den Arzt, sehr
lange, wie es uns schien, obwohl einer der beiden Drs. McColl in der Kirche
gewesen sein muß.
    Grandpa lag im gleißenden
Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster hereinströmte, den Kopf auf abgewetzte
Kniepolster gebettet. So dunkel und muffig es in der Sakristei war, so hell war
es hier. Die nackte Holzdecke, durch deren Öffnungen die Glockenseile
herabhingen, war mehr als sechs Meter hoch. An den Wänden hingen verrostete
Teile von Rüstungen aus dem Bürgerkrieg, die Mr. Downwards Vorgänger auf dem
Friedhof ausgegraben hatten. Die Hanmers waren Royalisten, und Cromwells
Soldaten hatten ihre Pferde in der Kirche untergestellt und zum Beweis Trensen,
Sporen und Panzerhandschuhe mit fehlenden Fingern zurückgelassen. Von diesen
brüchigen Relikten abgesehen, war der Glockenturm kahl, sauber und offen, und
Grandpa wirkte in dem schattenlosen Licht schrecklich deplaziert. Eine ganze
Weile war es still. Dann beugte sich der Arzt mit dem Stethoskop über ihn, und
wir

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