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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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weckten damit den Rektor aus
seinen Träumereien. Er hatte in letzter Minute in die Kirche hinübereilen
wollen, nahm sich nun aber noch die Zeit, Nerys eine so gewaltige Standpauke zu
halten, daß sie in Tränen ausbrach. Mich konnte er pietätshalber nicht zur
Rechenschaft ziehen, und so wurde Nerys zum Sündenbock, die arme, die an einer
Herzschwäche infolge eines rheumatischen Fiebers, das sie als Kind durchgemacht
hatte, in jungen Jahren starb. Doch obwohl Mr. Palmer mich nicht bestrafte,
mußte auch ich bitterlich weinen. Mein schlechtes Benehmen gehörte wohl zu dem
privaten Ritual, mit dem ich Grandpa im Geiste begrub, wo er — mein mißmutiger
Mentor — natürlich weiterlebte. Er hatte mir das Gefühl gegeben, eine innere
Topographie zu haben, eine Art Pfarrhaus-Seele, und er hatte mich zum Lesen
gebracht. Jahrelang sah er mir noch bei jedem Buch, das ich las, über die
Schulter.
    Im Land der Lebenden blies uns
ohne ihn ein eisiger Wind entgegen. Wir verloren augenblicklich jedes Ansehen.
Daß wir keine materiellen Ansprüche auf Achtbarkeit erheben konnten, war
offensichtlich — Grandpa hatte weder Geld noch Eigentum hinterlassen — , und
der moralische Anspruch war natürlich längst dahin. Die Kirche drängte Grandma,
das Pfarrhaus zu räumen, um Platz für den nächsten Amtsinhaber zu schaffen, und
so wurden die verstaubten Besitztümer, die sich in zwanzig Jahren angesammelt
hatten, hinaus ans Licht geschafft: Das gute Tafelservice, soweit es die
Tellerwurfzeiten überlebt hatte, Sessel mit zerschlissener Polsterung und
Brandflecken, verblichene Vorhänge, mottenzerfressene Teppiche und Berge alter
Zeitungen. Das Mobiliar wurde größtenteils eingelagert, das Klavier und die
Bücher in das Gemeindewohnhaus meiner Eltern gezwängt, wo sie verlegen und
deplaziert wirkten und die Enge noch drangvoller machten.
    Und nach erbitterten
Auseinandersetzungen wurde auch Grandma hineingezwängt. Sie hatte insgeheim
geplant, zu ihrer Schwester Katie nach Südwales und in das verlorene Paradies
der Hereford Stores zurückzukehren, doch zur Überraschung aller sagte ihr
Bruder Stan mit dem Mut der Verzweiflung nein. Der Wurm krümmte sich. Er werde
sich nicht von seinen Schwestern erdrücken lassen, und ohnehin könne der Laden
Hilda nicht ernähren (das stimmte natürlich, aber er konnte auch Katie und Stan
nicht ernähren). Und so zog Grandma zähneknirschend zu meinen Eltern. Es muß
wie ein böser Traum gewesen sein — kaum waren meine Eltern der vergifteten
Atmosphäre des Pfarrhauses entronnen, wurden sie wieder von ihr eingeholt, in
Gestalt dieser kleinen, dicken, übellaunigen, nach Cold Cream und Mottenkugeln
riechenden Hexe. Grandma machte natürlich das Schicksal und meine Eltern für
ihre Enttäuschung verantwortlich und hörte nie auf, sich über die
Unbequemlichkeit ihres Quartiers zu beklagen — zu Kinos und Geschäften war es
nun noch weiter (sofern das überhaupt möglich war). Das offene Gemeindeland
ringsum, wo die Kühe auf dem Weg zur Weide über die uneingezäunten
Gartenparzellen trotteten, war für sie Hanmer hoch zwei, und sie verachtete es
aus tiefstem Herzen.
    Es war grauenvoll, mit ihr
zusammenzuleben, gleichzeitig aber war sie ein Bindeglied zur verlorenen
Vergangenheit. Einmal, als sie noch im Pfarrhaus Habseligkeiten sortierte —
alles schien dort immer dünner und schließlich durchsichtig zu werden, so als
löste sich ein Bann — , erzählte sie mir eine Geschichte, die ihre ganze
Hexenhaftigkeit zum Ausdruck brachte. Als ich nach der Schule vorbeikam, hatte
sie vor sich hin gemurmelt und keuchend gelacht, und es war offensichtlich, daß
sie eine Bosheit loswerden wollte. Nach einem Griff zum Riechsalz kam sie damit
heraus. Als sie am Morgen wie gewohnt zu Bett gehen wollte, war ihr auf der
Treppe ein Gespenst begegnet: Grandpa, wie üblich gerade aufgestanden. Ich
erschauerte und war tief beeindruckt — im Gegensatz zu Grandma. In ihrer
üblichen Phantasielosigkeit (die in solchen Momenten etwas geradezu Surreales
hatte) hielt sie das Ganze für einen der albernen Streiche, die er sich nie
hatte verkneifen können. »Wenn der alte Mistkerl denkt, er kann mir damit einen
Schreck einjagen«, keuchte sie triumphierend, »dann ist er schief gewickelt.«
Und sie machte sich wieder daran, Papiertüten in Papiertüten zu packen und
zweifellos da und dort eine unrechtmäßig erworbene Pfundnote einzuschmuggeln.
Und ich ging, mit Stoff zum Nachdenken — »schief gewickelt« -, und

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