Die Anfänge meiner Welt
mit in die Darbietung einbezogen. Er spielte dieselbe Rolle wie sonst
auch, und so blieb ich, während die anderen Darsteller nach Hause und in die
Wirklichkeit zurückkehrten, weiter in seinem Bann. Daß ich hinter die Kulissen
durfte, zerstörte die Illusion keineswegs, ganz im Gegenteil. Die modrig
riechende Sakristei, in der wir unsere Gewänder an- und ablegten, in der er in
einem besonderen Schrank den Wein verwahrte und in der die Orgelbälge keuchten,
war ein Paradies für mich. Wir hatten den Schlüssel zur Seitentür der Kirche
und kamen und gingen, wie es uns beliebte. Ich schob die weißen Karten mit den
schwarzen Zahlen in den Holzrahmen, die Liednummern für den nächsten
Gottesdienst, und er schüttelte den Kopf über den Schweinestall, den der Chor
hinterlassen hatte — Gottesdienstprogramme, halb aufgelutschte
Pfefferminzbonbons und Victory-V-Pastillen unter den Pulten — , genehmigte sich
einen Schluck und hielt Zwiesprache mit sich selbst.
All das verlieh dem Gottesdienst
zusätzlichen Reiz. Der Höhepunkt aber kam in der Predigt, wenn er sich zu einem
feierlichen Ton aufschwang, eine Hand um den Rand der Kanzel schloß und die
andere in der zeitlosen Pose des Redners erhob. Ich habe seine Gesten als sehr
kraftvoll in Erinnerung, und im Tagebuch finde ich das indirekt bestätigt, denn
nach einer seiner anderen Nummern, dem Monolog des »Fagin in der
Todeszelle«, schreibt er am nächsten Morgen, daß ihm »vom Spielen« der Arm weh
tut. Notizen zu seinen Predigten enthalten die Tagebücher nicht, nur Listen
seiner Themen (im Herbst 1934 »Das Bildnis des Dorian Gray«, »Hoffart«, »Die
Moral des Hiob«). Ausführlichere Aufzeichnungen machte er in kleinen roten
Heften, von denen eines erhalten geblieben ist. Dieses Relikt ist nicht von Grandma
aufbewahrt worden; es fand sich zusammen mit den Büchern, Pfeifen und
Spazierstöcken in seinem Nachlaß. Es ist eine bunte Mischung von Entwürfen,
Einfällen und Skripten, zum Teil noch aus den Jahren vor seiner Versetzung nach
Hanmer, vermittelt aber durchaus einen Eindruck von seinem Predigtstil.
Am besten war er, wenn es um
andere Welten ging, und zwar nicht nur um Himmel und Hölle: Seine
Lieblingsautoren waren Shakespeare und die metaphysischen Dichter Scott,
Dickens, Wilde, Wells, Conan Doyle und Jules Verne. Aber er hatte auch ein
erstaunliches Repertoire an derben Anekdoten. Eine Notiz unter der Überschrift
»Der Berg und das Tal« (Ekstase vs. Besonnenheit) lautete beispielsweise:
Illustr.: Marta und Maria
Bauer auf die Frage, welche ihm
lieber wäre
Marta vor dem Essen
Maria nach dem Essen
Auch eine bissige politische
Fabel findet sich da — undatiert, aber zweifellos auf südwalisische
Bolschewismus-Ängste gemünzt:
Illustr.:
Thomas Paines Werk Die Rechte des Menschen erregte solchen Anstoß, daß die
Regierung den Verkauf streng verbot. Ein alter Buchhändler in Glamorganshire,
der unter dem dringenden Verdacht stand, mit den Radikalen zu sympathisieren,
merkte eines Tages, daß er von Spitzeln der Regierung beobachtet wurde. Er band
ein Buch in braunes Papier ein, schrieb »Die Rechte des Menschen« auf den
Rücken und stellte es in sein kleines Schaufenster. Die Spitzel kauften es
prompt zu einem weit überhöhten Preis, schlugen es eilig auf und mußten
enttäuscht feststellen, daß es eine Ausgabe der Bibel war. Der alte Waliser war
ein schlauer Fuchs; aber er war noch mehr — er war ein wahrer Prophet...
Es machte Grandpa Spaß, sich
auf unterschiedliche Situationen einzustellen, und er pickte wie eine Dohle
nach markanten Wendungen, um sie für später aufzuheben. Es gibt eine Sammlung
berühmter letzter Worte, die — wie er schreibt — oft entlarvend sind; recht
unfair stellt er Lord Palmerston (»Wo bleiben die Depeschen aus Belgien?«) und
Chesterton (»Bietet dem Herrn einen Stuhl an«) neben Jesus — »Vater, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«. Selbst sein Humor war eher schwarz.
Die meisten Notizen sind zu
mehreren Versionen einer »Predigt zur Karwoche« erhalten, die das Thema Schande
und Todesqual des Judas behandelt. Man kann verfolgen, wie Grandpa sie aus
recht gemäßigten Anfängen weiterentwickelt: »Ehrgeizig... Aber sein Ehrgeiz war
ganz und gar diesseitig... nicht Reue, sondern schlechtes Gewissen... Ein
Eisblock.« Nach und nach gewinnt Judas’ Charakter an Tiefe, und sein Schicksal
wird mehrdeutig. Die dreißig Silberlinge, für die er Jesus verriet, entsprechen
in
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