Die Anfänge meiner Welt
wurden hinausgeschickt. Als ich ihn wiedersah, saß er in seinem
Arbeitszimmer im Sessel, dem Tod von der Schippe gesprungen, in schwärzester
Laune.
Er war wieder der alte, und das
bestärkte mich in meiner Überzeugung, daß er unsterblich sei. Kinder glauben
oft, daß die Erwachsenen ewig leben — meine Generation um so mehr, als der
Krieg einen gewaltsamen Tod durch Bomben und Gewehre, zu einer so geläufigen
Vorstellung gemacht hatte, daß normales Sterben in den Hintergrund gerückt war.
Grandpa war von seinem Wesen und seinem Beruf her dem Tod ohnehin nahe, und so
beunruhigte es mich nicht weiter, daß er ihm einen weiteren Schritt näher
gekommen war. Er wurde knochiger und boshafter. Mit der Röstgabel in der Hand
saß er am Küchenfeuer und schaute zu, wie das Brot braun wurde. Oder er plante
einen Festschmaus und legte Kartoffeln in die Asche, und eine Stunde später riß
er das Feuer auseinander, um nach ihnen zu sehen, und schlug die Kohle mit dem
Schürhaken in kleine Stücke. Von Besuchern schnorrte er verbotenen Tabak.
Irgendwie gelang es ihm immer, sich in eine Rauchwolke zu hüllen, die ihm Hilda
vom Leib hielt und den allgemeinen Schmutz noch vermehrte. Er behauptete sogar,
er putze sich die Zähne mit Ruß, weil Ruß körnig sei, und darauf komme es
schließlich an. Aber er hatte kaum noch eigene Zähne (und die waren verfärbt),
so daß schwer zu sagen war, ob es etwas nützte. Jetzt, da er ans Haus gefesselt
war, verschmolz er für mich schlichtweg mit seinem Mythos.
Für mich mußte er so bleiben,
wie er war, damit ich weiter das Pfarrerskind spielen konnte. Selbst wenn ich
ungezogen war und Grandma mich zur Strafe in den grausigen Keller sperrte, war
das weniger bedrohlich als die Rückkehr meines Vaters vom Militär und die
Geburt meines Bruders, als ich sechs war. Meine eigentliche Familie war von
ganz anderer Art als ich: Meine Eltern legten — ein wenig wie die Schule — Wert
auf Ordnung und Gehorsam, auf Dinge, die nicht zu meinen Stärken zählten. Mein
Anspruch, etwas Besonderes zu sein, gründete sich auf Bücher, die Kirche und
meinen Fundus an Gruselgeschichten — Grandpas Gaben, alle verbunden mit den
dunklen Bezirken des Pfarrhauses und der Sakristei und mit dem sattsam
bekannten Gefühl der Unzufriedenheit und Entbehrung, das auch Grandma erfüllte.
Und so klammerte ich mich angesichts seines Verfalls an mein Bild von ihm und
ergriff insgeheim für ihn Partei, wenn ich auf der Treppe mit anhörte, wie mein
Vater sich in die Auseinandersetzungen über unbezahlte Rechnungen und
Alterungsschäden einmischte und sich darüber beklagte, wie chaotisch und
liederlich es im Pfarrhaus zugehe.
Und nicht nur in Gelddingen war
nichts so, wie es sein sollte. Meine Großeltern verkörperten Anarchie jeglicher
Art. Grandma war gewissermaßen ein Zerrbild der neuen Hausfrauentugenden (zu
sehr Frau, um zu waschen und zu putzen) und Grandpa alles andere als ein
richtiger Mann, trotz seiner Schürzenjägerei. Was ihn anziehend machte, war
vermutlich sein geheimes Einvernehmen mit Frauen, zumindest mit den
ambitionierten, denen, die nichts mit sich anzufangen wußten. Daß er nicht
außer Haus arbeitete, nicht einmal in einem Büro, und daß er unbeirrbar in
seiner Phantasiewelt lebte, faszinierte seine altjüngferlichen Fans ebenso wie
mich. Das bißchen Autorität, das er hatte, war gekünstelt und fragwürdig. So
richtete die moralische Aufrüstung der Nachkriegszeit, die jedermann dazu
vergatterte, normal zu sein und Haltung anzunehmen, im Pfarrhaus wenig aus.
Immerhin aber zogen meine Eltern um, in ein neues Gemeindewohnhaus ein Stück
dorfauswärts, ein Haus für die Musterfamilie aus der Werbung der fünfziger
Jahre: Der Mann arbeitet, die Frau macht den Haushalt, die Kinder (zwei, ein Junge
und ein Mädchen) sind sportlich, sauber und kontaktfreudig. Ich mußte mit, aber
die Umwälzung vollzog sich im Zeitlupentempo. Wir zogen ratenweise um. Jeden
Tag nach der Schule schaute ich im Pfarrhaus vorbei, und wir gingen nach wie
vor zu jeder Tages- und Nachtzeit in die Kirche. In dem neuen, offenen Wohnraum
wohnte ich noch nicht.
Durch das Pfarrhaus war ich auf
eine Vorliebe für dunkle Ecken und auf Respektlosigkeit programmiert. Ich
verstand es, mich hinter Büchern zu verschanzen. Bei Bedarf konnte ich mir aus
irgendwelchen Fetzen bedruckten Papiers, die ich gerade fand, ein Nest bauen.
Ich las alles, bunt durcheinander — Rupert Bear, Captain Blood, Tarzan, Alice
im Wunderland, die
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